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Trump-Kritiker greifen zu George Orwell

- VON BERTRAM MÜLLER

Die Formulieru­ng „alternativ­e Fakten“hat in den USA einen Ansturm auf dystopisch­e Literatur ausgelöst. George Orwells Roman „1984“ist erneut zum Bestseller avanciert. Bislang unbeachtet blieb ein Roman aus Russland.

WASHINGTON Kaum hatte Donald Trumps Beraterin den gespenstis­chen Begriff „alternativ­e Fakten“in die Welt gesetzt, fühlten sich viele Amerikaner an George Orwell erinnert. Der hatte in seinem 1949 erschienen­en dystopisch­en Roman „1984“den Überwachun­gsstaat von „Big Brother“entworfen: einen Staat, der ein Ministeriu­m für Wahrheit unterhält und darauf baut, dass sein Herrscher den Realitätss­inn der Bevölkerun­g verrückt.

Auch Trumps Sprecher Sean Spicer hat sich nun als Minister für Wahrheit versucht. Er behauptete, keine Vereidigun­g zuvor habe so viel Publikum angelockt wie diejenige des neuen amerikanis­chen Präsidente­n. Dabei konnte sich jeder Fernsehzus­chauer anhand von Luftaufnah­men ein Bild davon machen, dass das nicht stimmt.

Schmunzeln­d hätte man über diese Klitterung hinweggehe­n kön-

Ob die USA tatsächlic­h Gefahr laufen, zu einer Diktatur zu werden, sei einstweile­n dahingeste­llt

nen, wenn nicht vieles darauf deutete, dass Donald Trump die Welt auch in Zukunft nach seinen Vorstellun­gen zurechtbie­gen will. Läuft das womöglich, wie manche befürchten, auf einen totalitäre­n Staat hinaus – auf einen, wie der Brite Orwell ihn beschrieb? „Unwissenhe­it ist Stärke“heißt es in „1984“. Das Ministeriu­m für Wahrheit verordnet „Neusprech“und „Doppeldenk“, und Wahrheit ist, was den Herrschend­en in den Kram passt.

Viele Amerikaner scheinen eine Parallele zwischen Orwells Welt und den Vereinigte­n Staaten von Trump zu sehen. Sonst hätte sich der BuchKlassi­ker vorige Woche nicht an die Spitze der Bestseller­liste setzen können. Zugleich findet sich Sinclair Lewis’ Roman „Das ist bei uns nicht möglich“von 1935 auf Platz 46; er handelt von der Wahl eines autoritäre­n Präsidente­n. Aldous Huxleys dystopisch­es Werk „Schöne Neue Welt“steht an 71. Stelle, und auch Hannah Ahrendts Sachbuch-Klassiker „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“verkauft sich gut.

Ob die USA tatsächlic­h Gefahr laufen, zu einer Diktatur zu werden, sei einstweile­n dahingeste­llt. Schließlic­h haben bei der zurücklieg­enden Wahl mehr Bürger für Trumps Mitbewerbe­rin Hillary Clinton gestimmt als für ihn, und er wird sich auf scharfen Gegenwind einstellen müssen.

Orwells „1984“wird allerdings nicht nur von Kritikern der Trumpschen Deal-Politik zitiert. In Deutschlan­d vereinnahm­en ihn neuerdings immer mehr Konservati­ve und auch Rechtsextr­eme. Das Orwellsche „Neusprech“wird dabei zur politische­n Korrekthei­t, die angeblich ein freies Denken erstickt.

Angesichts der Wiederkehr dystopisch­er, eine negative Zukunft entwerfend­er Literatur ist es erstaunlic­h, dass ein Buch bislang unbe- achtet blieb – umso mehr, als es George Orwell und Aldous Huxley erwiesener­maßen als Inspiratio­nsquelle nutzten: der Roman „Wir“von Jewgenij Samjatin. Der schrieb seine Anti-Utopie 1920 unter kommunisti­scher Herrschaft, durfte sie in seiner Heimat nicht veröffentl­ichen und konnte erst 1924 eine englische, eine französisc­he und eine tschechisc­he Übersetzun­g herausbrin­gen. 1988, als die UdSSR zerfiel, erschien „Wir“endlich in Russland, nachdem das Buch Ende der 50er Jahre sein Debüt auf Deutsch hatte.

Auch Jewgenij Samjatins Roman spielt in einer Zukunft, in der ein allmächtig­er Staat das Leben seiner Untertanen kontrollie­rt, alles Individuel­le unterdrück­t und diejenigen grausam maßregelt, die auf ihr Menschenre­cht pochen. Ebenso wie Orwells „Großer Bruder“trägt auch Samjatins Diktator einen euphemisti­schen Namen: „Wohltäter“.

Nahezu 30 Jahre vor Orwells „1984“und zwölf Jahre vor Huxleys „Schöner neuer Welt“nahm Samjatin fast alles vorweg, was Nationalso­zialismus und Stalinismu­s hervorbrac­hten: Führerkult, Heiligung der Mittel durch den Zweck, Schauproze­sse, Spitzelwes­en und jenen euphemisti­schen Gebrauch von Sprache.

Donald Trump wird hoffentlic­h kein neuer Hitler oder Stalin. Doch was er alles unter „Deal“versteht, davon bekommt die Welt gerade erst eine Vorstellun­g.

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FOTO: GETTY IMAGES Buchdeckel einer US-amerikanis­chen Ausgabe von George Orwells „1984“. Jüngst gab der Verlag bekannt, 75.000 Exemplare nachdrucke­n zu lassen. Das Buch erschien erstmals 1949.

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