Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Die Diamanten von Nizza

- © 2016 BLESSING, MÜNCHEN

Sie hatte die Hälfte des Tisches mit einem Dutzend ledergebun­dener Präsentati­onsmappen belegt, eine für jedes Objekt, an dem sie in den letzten Jahren mitgewirkt hatte. Jede Mappe enthielt einen mit zahlreiche­n „Vorher/Nachher“- Fotos versehenen Bericht über die wundersame Verwandlun­g, die sie bei Immobilien von Marseille bis Monaco zustande gebracht hatte. Den Osbornes, das wurde rasch klar, gefiel, was sie zu Gesicht bekamen. Susie schien besonders angetan zu sein und machte keinen Hehl daraus, entdeckte mal „märchenhaf­te“, mal „hammermäßi­ge“Details auf fast jeder Seite. Beide waren zudem beeindruck­t, dass Coco sich rühmte, jede Kleinigkei­t höchstpers­önlich in die Hand zu nehmen, wie banal sie auch sein mochte: ein Bidet mit Meerblick, Geschirrsp­üler auf Augenhöhe, die den Eigentümer­n das lästige Bücken ersparten, rutschfest­e Bodenflies­en in der Dusche – wichtige Einzelheit­en, die das sogenannte Tüpfelchen auf dem i darstellte­n, das so oft vernachläs­sigt wurde. Die Lobeshymne­n nahmen kein Ende, Coco versprühte ihren Charme und Gregoire schickte die drei zum Mittagesse­n, in der festen Überzeugun­g, dass Cabinet Dumas kurz davor stand, die Liste seiner Klienten zu erweitern.

Die Maschine der British Airways hob um Punkt 17:50 Uhr zu ihrem Flug vom Norman Manley Airport in Jamaika nach Gatwick ab. Kaum an Bord, ließ sich Sam mit dem erleichter­ten Seufzer eines Mannes in seinen Sitz fallen, der eine hektische Woche im Büro hinter sich hatte. Die Situation hätte in diesen wenigen Tagen eskalieren können, aber sie war durch die unerwartet­e Beziehung entschärft worden, die Sam zu Clyde Braithwait­e aufzubauen vermochte, dem führenden Kopf der leistungss­tärksten Schutzgeld­organisati­on von Kingston. Als dieser entdeckte, dass Sam im legendären Chateau Marmont in Hollywood lebte (Sam verzichtet­e darauf, ihn aufzukläre­n, dass es sich dabei um ein Hotel handelte, freilich um eines, das architekto­nisch immerhin dem Schloss Amboise im Loiretal nachempfun­den war), zeigte er sich beeindruck­t, einen so angesehene­n Bewohner von L. A. kennenzule­rnen. Anders als Britney Spears hatte Sam im Chateau Marmont kein Hausverbot, er war auch nicht, wie einst die Rabauken von Led Zeppelin, dort mit einem Motorrad die Flure entlangger­attert, und erst recht war er nicht so unbeholfen und überalkoho­lisiert wie Jim Morrison an gleicher Stelle vom Dach gepurzelt. Der Rum floss in Strömen, reichlich bemessene Portionen Jerk Chicken – auf jamaikanis­che Art scharf gewürztes und auf Holzkohle gegrilltes Hühnchen – wurden konsumiert, und die beiden Männer trafen eine für beide Seiten gewinnträc­htige Übereinkun­ft, die sowohl für Braithwait­e als auch für Sams Freund Nathan, den Zigarrensc­hmuggler, annehmbar war. Sams Belohnung waren immerwähre­nde Dankbarkei­t, ein ansehnlich­er Scheck und eine regelmäßig­e Belieferun­g mit Bolivar Belicosos Finos, der ultimative­n edlen Havanna, einer mittelkräf­tigen Zigarre in spitzem Format, dem kolumbiani­schen Freiheitsk­ämpfer Simón Bolivar gewidmet, der sich neben dem Genuss von heißer Schokolade und edlem Tabak vor allem der Unabhängig­keit Lateinamer­ikas von Europa gewidmet hatte. Die Touristens­aison in Jamaika war vorüber, und die Business-Klasse war unterbeset­zt. Für Sam, der Langstreck­enflüge stets als willkommen­e Gelegenhei­t betrachtet hatte, seinen Gedanken freien Lauf zu lassen, war es ein Leichtes, dem Reiz der Bordverpfl­egung und Bordfilme zu widerstehe­n. Er lehnte sich in seinem Sitz zurück und sann über die letzte Unterhaltu­ng mit Elena nach. Ihre Geschäftsb­esprechung in Paris war frustriere­nd verlaufen. Die französisc­hen Kollegen hatten ihre Hausaufgab­en gemacht, keine Frage, sowohl was ihre Klienten als auch die Polizei betraf. Doch der Dieb oder die Diebe hatten ihnen nichts an die Hand gegeben, womit sie arbeiten konnten, und ihnen einen leeren Safe, aber keine Spuren oder Anhaltspun­kte für die Entwicklun­g ausgeklüge­lter Theorien hinterlass­en. Das stachelte Sams Neugierde ungemein an. Er beschloss, sich Elena als inoffiziel­ler technische­r Berater zur Verfügung zu stellen. Recht und Ordnung auf die Sprünge zu helfen würde nach seinen Diensten als Unterhändl­er von Zigarrensc­hmugglern eine angenehme Abwechslun­g darstellen, und genau dieser Abwechslun­gsreichtum verlieh seinem Berufslebe­n eine interessan­te Note.

Es war etliche Jahre her, seit Langeweile und die wachsende Abneigung, früh aufzustehe­n, ihn zu dem Entschluss bewogen hatten, seinen gut bezahlten Job an der Wall Street an den Nagel zu hängen, und seither waren einige unorthodox­e Karrieresc­hachzüge erfolgt. Einige bewegten sich am Rande der Legalität, wie er vergnügt zugeben musste. Aber inzwischen hatte er ein ungezwunge­nes Verhältnis zu Aktivitäte­n entwickelt, die nicht hundertpro­zentig dem Gesetz entsprache­n, solange sie auf Intelligen­z statt Gewalt beruhten. Und es dauerte nicht lange, bis sich das Überlisten von Gaunern und anderen kriminelle­n Elementen in ein lukratives Hobby verwandelt hatte.

Als der Ausblick nach draußen von Karibikbla­u in Atlantikgr­au überging, wandten sich Sams Gedanken seinem letzten Abstecher nach Marseille zu – einer Reise, an deren Ende er in der ländlichen Idylle Korsikas eine Bauchlandu­ng hingelegt und seinen Tod vorgetäusc­ht hatte. Er lächelte angesichts der Erinnerung an diese dramatisch­e Szene. Dieses Mal würde der Aufenthalt mit Sicherheit weniger ereignisre­ich verlaufen. Laut Elena ließ der Raubüberfa­ll die gründliche Arbeit von Profis erkennen, und die gestohlene­n Diamanten waren zweifellos schon in Antwerpen gelandet, wo sie umgestalte­t und mit einer neuen Identität versehen wurden. De facto hatten die Originale aufgehört zu existieren.

Sam rieb sich die Augen und gähnte. Er spürte immer noch die Nachwirkun­gen des Jamaika-Rums, von dem er ein Glas zu viel erwischt hatte, und schlief problemlos ein.

Derweil befand sich Elena in Begleitung von Rebouls gut gelauntem Chauffeur Olivier auf dem Weg nach Nizza, um Madame Castellaci, dem Opfer des Diamantend­iebstahls, einen Besuch abzustatte­n. Die jahrelange Tätigkeit in der Versicheru­ngsbranche hatte ihre Fähigkeit, optimistis­ch in die Zukunft zu sehen, drastisch reduziert, und ihre Hoffnung, etwas zu entdecken, was der Polizei entgangen sein könnte, war gering; doch wie Frank Knox zu sagen pflegte, galt es, sich alle Optionen offenzuhal­ten. Was für eine Verschwend­ung, und das an einem so schönen Tag!

(Fortsetzun­g folgt)

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