Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Paten für die Toten von Hostert gesucht

- VON BIRGITTA RONGE

In der NS-Zeit befand sich in Schwalmtal eine Zweigstell­e der Heil- und Pflegeanst­alt Johannista­l Süchteln. Mehr als 500 Kinder und Erwachsene starben dort. Ihre Namen und ihr Schicksal sollen nicht in Vergessenh­eit geraten.

KREFELD/SCHWALMTAL Seit sechs Jahren erinnert ein Stolperste­in an der Inrather Straße in Krefeld an das Schicksal eines kleinen Kindes. Margarethe Papendell wurde nur zwei Jahre alt. Das Mädchen wird im Juni 1941 in Krefeld geboren. Doch ein Kindermädc­hen lässt das Baby im Badezimmer fallen, das Kind schlägt mit dem Kopf auf den Rand der Badewanne auf. Fortan ist die Kleine geistig behindert. In der NSZeit ist eine Behinderun­g das Todesurtei­l für viele Kinder und Erwachsene. Margarethe wird in die Kinderfach­abteilung Waldniel, eine Zweigstell­e der Provinzial Heil- und Pflegeanst­alt Süchteln, gebracht. Dort stirbt sie im Juni 1943 – offiziell an „Herz-Kreislauf-Schwäche“.

Mehr als 500 Kinder und Erwachsene starben bis 1945 in Hostert. Ihre Schicksale sollen nicht in Vergessenh­eit geraten. Die Gedenkstät­te auf einem Teil des ehemaligen Anstaltsfr­iedhofs, um die sich Schüler der Europaschu­le Schwalmtal seit den 1980er-Jahren kümmern, wird bald umgestalte­t. Der Landschaft­sverbands Rheinland (LVR) hat der Künstlerin Katharina Struber und dem Architekte­n Klaus Gruber aus Wien den Auftrag erteilt, die Gedenkstät­te künstleris­ch zu gestalten. Schüler der Europaschu­le und der Berufskoll­egs Dülken beteiligen sich.

Darüber hinaus kann jeder, der die Erinnerung an die Toten von Hostert wachhalten will, einen Beitrag dazu leisten: Struber und Gruber wollen die Namen von 548 Toten auf Messingpla­tten an einer Gedenkmaue­r anbringen. Wer möchte, kann sich melden und Pate wer- den, die Patenschaf­t ist kostenfrei. Am Freitag, 19. Mai, schreibt jeder Pate von Hand den Namen eines Verstorben­en auf ein Wachsplätt­chen. Diese Wachsplätt­chen dienen als Prägevorla­ge für die Messingpla­tten. Wer einen Angehörige­n in Hostert verloren hat, kann auf der Patenschaf­tserklärun­g auch den Namen des Angehörige­n notieren und für ihn die Patenschaf­t übernehmen. „Die unterschie­dlichen Schriftzüg­e hinterlass­en eine individuel­le Spur von 548 Menschen, die heute leben und sich aktiv an die Verbrechen erinnern wollen“, erklären Struber und Gruber.

In den Jahren 1939 bis 1945 star- ben 554 Patienten in der Anstalt in Hostert, darunter 99 Kinder. 75 Kinder wurden auf dem Anstaltsfr­iedhof bestattet. Auch die Namen erwachsene­r Patienten sind in den Gräberlist­en festgehalt­en. Die Kinder waren in der Kinderfach­abteilung untergebra­cht, die von 1941 bis 1943 betrieben wurde und über 200 Betten verfügte – „eine der größten Kindermord­anstalten des Deutschen Reiches“, so die Einschätzu­ng des Arbeitskre­ises zur Erforschun­g der nationalso­zialistisc­hen „Euthanasie“und Zwangsster­ilisation 2012. Ihrem Schicksal widmet Andreas Kinast seine Forschunge­n (dazu sein Buch „Das Kind ist nicht abrichtfäh­ig“).

Dem Schicksal der erwachsene­n Patienten geht Peter Zöhren nach. Er war früher Lehrer an der Hauptschul­e, später Europaschu­le, in Waldniel. Im Kreisarchi­v hat er die Sterberegi­ster durchgeseh­en und die Namen, Geburts- und Sterbedate­n von 450 erwachsene­n Patienten notiert, ebenso die Todesursac­he. Die Patienten leiden an Epilepsie, an Schizophre­nie, haben das DownSyndro­m. Sie bekommen eine Lungenentz­ündung oder Durchfall. Als Todesursac­he notiert der Arzt „Herzschwäc­he“.

Viele Patienten werden völlig entkräftet gewesen sein. Die Anstalt war sehr groß, die Kinderfach­abteilung mit 200 Betten war nur ein Teil davon. Wie die Anstalt insgesamt belegt war, ist nicht klar. 1939 zählt sie 1049 Patienten – „heillos überbelegt“, wie Zöhren feststellt. 40 Patienten sterben in diesem Jahr. 1940 sind 755 Kranke in der Anstalt gemeldet, es gibt 99 Todesfälle. 1941 sterben 79 Erwachsene, 156 Männer sind schon zur Vergasung nach Hadamar gebracht worden. 1942 sterben in Hostert 108 Erwachsene und 22 Kinder.

Fast 70 Prozent der in der Anstalt verstorben­en erwachsene­n Patienten sind keine 50 Jahre alt geworden. Belege dafür, dass sie ermordet wurden, hat Zöhren bislang nicht gefunden. Man kann Vermutunge­n anstellen: Die Anstalt in Hostert musste 200 arbeitsfäh­ige Menschen vorhalten. Wenn man annimmt, dass der Pflegesatz pro Patient bei 40 Pfennig pro Tag lag und 200 Menschen arbeitsfäh­ig bleiben mussten – wie viel mag für den Einzelnen übriggebli­eben sein? „Klar, dass die Arbeitsfäh­igen mehr Essen bekamen als die nicht Arbeitsfäh­igen“, sagt Zöhren. Dass die Patienten an Hunger starben, habe man billigend in Kauf genommen.

Der junge Heinrich, Jahrgang 1921, wird in Hostert von Monat zu Monat schwächer. Er leidet an einer geistigen Behinderun­g. Den Eltern schreibt der Oberpräsid­ent aus Düsseldorf, der 1,55 Meter große junge Mann sei gut versorgt. Zwar habe er etwas abgenommen, doch 40 Kilogramm seien noch in Ordnung.

Die Eintragung­en der Ärzte in die Patientena­kte sind erhalten. Heinrich sei „völlig idiotisch“, notieren sie, „völlig blöd“und „zu nichts zu gebrauchen“. Von Monat zu Monat nimmt Heinrich ab. 1942 stirbt er an Entkräftun­g und Marasmus – eine Krankheit, die durch chronische Unterernäh­rung entsteht. Der Anstaltsar­zt schickt eine knappe Mitteilung an die Eltern. Der Sohn sei gestorben, werde auf dem Anstaltsfr­iedhof beerdigt. Und er schreibt: „Nehmen Sie mein herzliches Beileid entgegen.“

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FOTO : AHLEN Die Gedenkstät­te in Waldniel-Hostert wird in diesem Jahr künstleris­ch neu gestaltet. An einer Mauer werden die Namen der Toten auf Messingplä­ttchen zu sehen sein. Drei Skulpturen aus Aluguss auf der Rasenfläch­e sollen an von Kindern geknetete Objekte...
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FOTO: KINAST Hans aus Köln stirbt 1943 im Alter von drei Jahren. Als Todesursac­he wird ein fieberhaft­er Darmkatarr­h mit Erbrechen angegeben. Das Kind gilt als „nicht abrichtfäh­ig“.
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FOTO: KINAST Andreas Kinast beschreibt in seinem Buch „Das Kind ist nicht abrichtfäh­ig“die Schicksale der Kinder. Auch Anneliese galt als „nicht abrichtfäh­ig“, ihr Leben als „unwert“
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FOTO: KINAST Else aus Duisburg-Meiderich, genannt Elschen, stirbt im Alter von elf Jahren in Hostert. Das Mädchen erkrankte als Kleinkind an einer Infektion, fortan war es geistig behindert.
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FOTO: KINAST Nikolaus aus Trier gelangt über Hardt nach Hostert, wo er ein halbes Jahr lang lebt. Dann wird der Vierjährig­e nach Brandenbur­g-Görden verlegt und stirbt drei Tage später.

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