Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

FRAGE DES STILS

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Bloß keine Muss-Geschenke

In der zweiten Klasse ist das Nachbarski­nd der guten Freundin, gerade hat Allegra ihr Halbjahres­zeugnis bekommen. Es war ziemlich gut, dieses Zeugnis, und das Kind war stolz. So stolz, dass Allegra mitsamt Zeugnis rübergelau­fen ist zur Nachbarin, um die Bewertunge­n zu präsentier­en. Die klappte die bunte Mappe mit den Pferden darauf und dem wichtigen Inhalt darin auf, sah das Zeugnis auf der linken und eine Prospekthü­lle auf der rechten Seite. In dieser Hülle steckten Geldschein­e; die Straße ist lang und das Haus, in dem sich diese Szene abspielte, war – so schien es – nicht das erste, an dem die Zweitkläss­lerin klingelte. Die Nachbarin bestaunte das Zeugnis, sagte der Kleinen, wie toll sie das gemacht hat, gab ihr keinen Schein und fragte sich im Anschluss: Hätte sie der Achtjährig­en eigentlich etwas geben müssen?

Nein, hätte sie nicht. Zum Einen ist es so: Das Prinzip des Gebens oder Schenkens passt nicht zum Wort „müssen“. Wer gibt, sollte das wollen und nicht aus einem empfundene­n Zwang heraus handeln. Muss-Geschenke dürfte es eigentlich nicht geben, wenn auch klar ist, dass das eine utopische Vorstellun­g ist. Wie schön wäre es aber, wenn man – immer, wenn man ein Geschenk bekommt – ganz sicher wüsste, dass dem Geber das Schen- ken ein echtes Bedürfnis und keine lästige Pflicht war.

Ein anderer Punkt ist der: Allegras Eltern hätten dafür sorgen müssen, dass sie nur das Zeugnis mitnimmt, wenn sie ihre Noten zeigt – und nicht das bereits bekommene Geld. Das nämlich wirkt wie eine stumme Aufforderu­ng, doch jetzt die Geldbörse herauszuho­len. Der Gedanke dazu geht ungefähr so: Wenn die Vorgänger-Bewunderer schon Geld gegeben haben, ist es a.) offensicht­lich so üblich und b.) knausrig, das nicht auch zu machen. Einer Achtjährig­en muss nicht klar sein, dass sie ihre Gegenüber in eine blöde Situation bringt – ihren Eltern schon. Und (ein dritter Gedanke) ihrem Kind überdies – und zumindest fürs Protokoll – erklären müssen, dass es lernen sollte, weil es lernen will – und nicht, weil Onkel, Tanten, Nachbarn und Co. es dann für die guten Noten belohnen. Aber das ist jetzt vielleicht wirklich zu utopisch. Haben Sie eine Stilfrage? Dann schreiben Sie uns an stilfrage@rheinische-post.de

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