Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch
Ich! Ich! Ich!
Auf einmal ist es wieder attraktiv, „Ich“zu sagen. Nicht meine Leute, meine Mannschaft, wir. So wie noch vor Kurzem, als alle von Teamgeist sprachen, von flachen Hierarchien, und Bescheidenheit zumindest rhetorisch zum guten Stil gehörte. Heute wird bewundert, wer sich selbstbewusst zu inszenieren versteht, wer Machtbewusstsein ausstrahlt, seine One-Man-Show genießt. Erfolg hat, wer Menschen für sich einnehmen und einen Raum beherrschen kann. Oder eine politische Bühne.
Es ist, als ob der Individualismus der Moderne in die Sackgasse des selbstgefälligen Egozentrismus liefe. Erst hat sich der Einzelne von engen Normen befreit, hat sich Spielraum zur Gestaltung seines persönlichen Lebensstils erobert. Doch was als Befreiung begann, gewinnt an Verbissenheit. Das Ich kreist in immer engeren Zirkeln um sich selbst, krampfhaft bemüht, ein gutes Bild abzugeben, Zuspruch zu bekommen. Gemocht zu werden.
In Zeiten, da viele Bindungen verhandelbar sind, ist Anerkennung ein knappes Gut. Etwas, das Sicherheit gibt. Also wächst der Hunger, gesehen zu werden, und immer mehr Menschen starren mit dem Blick der Anderen auf sich selbst, gierig nach dem eigenen Abbild.
Als Apple 2010 das erste Mobiltelefon auf den Markt brachte, das die Kameraperspektive wenden und auf den Fotografen richten konnte, schien das Phänomen der neuen Ich-Bezogenheit sein technologisches Äquivalent gefunden zu haben. Das Selfie als Ausdruck manischer Selbstvernarrtheit. Viel ist seitdem von Narzissmus die Rede, von dem krankhaften Selbstbespiegelungsverlangen einer ganzen Gesellschaft, vom kollektiven Wunsch, endlich aus Selbstzweifeln und Entfremdung erlöst zu werden – im Einswerden mit sich selbst.
Viele Verhaltensweisen der Gegenwart gelten als Symptome für diese Di- agnose. Da muss man gar nicht mehr Touristen beschreiben, die mit dem Handy-Stick durch die schönsten Landschaften laufen und eigentlich nur sehen wollen, wie sie selbst aussehen. Wenn Jugendliche heute eine Party feiern, ist das Handy auf Live-Stream geschaltet. Dann wird für die Kamera Party gemacht und ängstlich registriert, welche Freunde andernorts sich zuschalten und Kommentare senden.
Es geht nicht mehr nur ums Beisammensein. Es geht ums Gesehenwerden. Darum, cool rüberzukommen, sexy auszusehen – im Urteil der anderen zu bestehen. Verbindliche Wertungsmuster haben sich ja aufgelöst. Die Frage „Bin ich okay?“ist nur im Spiegel der anderen noch zu beantworten.
Dazu passt der Boom der FitnessStudios, in denen Körper auf Idealmaß gebracht werden. Dass Casting-Shows weiter Quote machen, die Fantasien vom Entdecktwerden bedienen. Dass immer mehr Menschen ihr Geld für Schönheits-OPs zusammenkratzen – darunter auch Männer. Dass Kindergeburtstage in Beautysalons für die Kleinen gefeiert werden, während die Erwachsenen in den sozialen Netzwerken an der Darstellung ihres Egos arbeiten. Man kann das für harmlose Trends halten. Man kann darauf hinweisen, dass der Begriff Narzissmus aus der griechischen Mythologie stammt, Selbstverliebtheit also eine alte menschliche Schwäche zu sein scheint. Und dass Egomanen wie Donald Trump wieder verschwinden werden. Möglich.
Doch leben wir in einer Zeit, die wegen des technologischen Fortschritts auf Perfektion setzt. Und rigoros definiert, was das ist. Behinderung etwa gilt dank Pränataldiagnostik inzwischen als vermeidbarer Unfall. Ob ein Leben glückt, wird nicht daran gemessen, ob ein Mensch sich nach seinen eigenen Maßstäben entfaltet, Bindungen aufbaut, Glück empfindet. Es geht um Erfolg, der sich in Geld und Ansehen messen lässt. In gestrafften Bildungsgängen
In der neoliberalen Gesellschaft hat der Einzelne verinnerlicht, dass er für sein Glück verantwortlich sein soll