Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch
Renaissance des Hörspiels
Die Kunstform erlebt ihr Comeback – im Radio, im Internet und auf CD. Wir stellen Titel vor, die das Zeug zum Klassiker haben.
Das Hörspiel hatte seine große Zeit in den 50er Jahren, als Autoren wie Ingeborg Bachmann und Günter Eich ganz selbstverständlich Texte schrieben, die in den Funkhäusern mit den berühmten Sprechern der Zeit eingerichtet wurden. Klassiker der Weltliteratur erreichten neue Popularität, wenn sie in halbstündigen Portionen dargereicht wurden – ein schönes Beispiel ist die HörspielAdaption von Balzacs „Verlorene Illusionen“mit Jürgen Goslar und Horst Tappert aus den 60er Jahren. Vielleicht liegt es daran, dass das Medium Radio durch Podcasts, Streaming und Internet-Stationen wieder beliebter geworden ist, jedenfalls erlebt das Hörspiel derzeit ein Comeback. Großartige Regisseure wie Klaus Buhlert verwandeln Klassiker wie den „Ulysses“in mehrstündige Oratorien, und so hört man wieder gebannt zu – wenn auch nicht mehr am Lautsprecher, sondern unterm Kopfhörer. Erregende Flüchtlingsproblematik bereits in den 60er Jahren Auf dem Papier konnten wir in der Schule (es war in den 70er Jahren) wenig damit anfangen, irgendwie schien es als tote Polit-Literatur mit familiärem Touch, jedenfalls machte uns „Das Schiff Esperanza“von Fred Hoerschelmann wenig Freude. Eines Abends überraschte mich eine Stimme im Radio damit, dass sie genau die Sätze sagte, die ich morgens gelesen hatte. Und da gewann dieses Hörspiel, das uns der gymnasiale Lesekanon in Gestalt eines Reclam-Bändchens eingebrockt hatte, an Dynamik, an Eindringlichkeit. Später erfuhr ich, dass es sich um das bekannteste Stück seiner Art zu jener Zeit handelte, noch heute ist es wegen seiner Themen (Flüchtlings- und Schlepperproblematik) aktuell. Die Radiosendung von damals, die mich so elektrisierte, gibt es noch heute – mit Heinz Klewenow, Stefan Wigger, Hans Christian Blech. w.g. Fred Hoerschelmann, Der Aufstieg und der Fall eines Tyrannen: In der tragischen Handlung von William Shakespeares „Macbeth“finden Aberglaube, Historie und Mythologie zueinander. Die Autoren David Hewson (Großbritannien) und A.J. Hartley (USA) verbanden Fakten aus der Geschichte und Shakespeares Werk zu einer Adaption („Macbeth: a novel“, 2011). Es folgt schließlich das Hörspiel, 2012 in englischer, 2015 in deutscher Fassung: Unter anderem Tobias Kluckert, Claudia UrbschatMingues und Friedhelm Ptok (der übrigens seine Stimme 2008 Imperator Palpatine in dem Video-Spiel „Star Wars: The Force Unleashed“lieh), erzählen von Mord, Verrat und Hexerei im Schottland des 17. Jahrhunderts. Hewson arbeitet in „Macbeth – ein Epos“viel mit Hintergrundgeräuschen, ganze Schlachtszenen sind vertont. Er spielt mit der Atmosphäre – auch durch Einsatz von musikalischer Untermalung. Ein Klassiker in attraktiver, neuer Verpackung – ohne das Original zu verfremden. juz David Hewson: „Macbeth – ein Epos“, Audible, 460 Min., 19, 95 Euro Humorvolle Krimi-Jagd mit Fernseh-Star Bjarne Mädel Sven Stricke hat sich eigentlich als Regisseur von Hörspielen einen Namen gemacht, nicht als Autor. Mehrfach wurde er mit dem Deutschen Hörbuchpreis ausgezeichnet. In Strickes Schriftsteller-Debüt, der Krimi-Komödie „Böses Ende“, werden zwei Callcenter-Agenten Zeugen eines Mordes – und gehen der Sache kurzerhand selbst nach. Mit Starbesetzung, darunter auch Bjarne Mädel und Florian Lukas, erweckt Stricker eine humorvolle Krimi-Jagd zum Leben. juz
Sven Stricke: Preisgekrönte Adaption eines preisgekrönten Romans Das Buch mit dem schönsten Titel der vergangenen Jahre ist „Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969“, ein 800-Seiten-Werk, das der Regisseur Leonhard Koppelmann neu inszeniert hat: In einer Drei-StundenHörspiel-Fassung erzählt er von der BRD der 60er. Autor Frank Witzel wurde für die Vorlage mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet. Koppelmann erhielt den Deutschen Hörspielpreis – zu Recht. kl
Frank Witzel: Hörspielbearbeitung von Kafkas „Schloss“in Starbesetzung Wie beliebt Hörspiele heute noch sind, zeigen die aufwendigen Neuproduktionen. Wie jetzt die spannende Hörspielbearbeitung von Franz Kafkas (1883-1924)„Das Schloss“. In der Inszenierung von Klaus Buhlert wird die Geschichte des Landvermessers K. und dessen vergebliche Mühen, ins Schloss zu gelangen, zum Erlebnis. Noch dazu, wenn so große Schauspieler wie Corinna Harfouch, Devid Striesow, Sandra Hüller und Gerti Drassl daran mitwirken. los
Franz Kafka: Die klanglichen Schönheiten des Buchstabens „L“Helmut Peschina hat den Roman „Die Strudlhofstiege“von Heimito von Doderer eingerichtet. Die Treppenanlage im IX. Wiener Bezirk als Drehpunkt biografischer Verstrickungen: Peter Simonischek macht mit, Peter Matic ist der Erzähler, und er spricht weise Sätze: „Es ist möglich, jemandem einen Rat zu geben, aber fast niemals kann ein solcher Rat angenommen werden.“Wie Leslie Malton den Buchstaben „L“in allen Nuancen zur Geltung kommen lässt, ist ein Ereignis. hols Heimito v. Doderer: Klassik Irgendein Mensch hat hier den tiefen Schlaf der Gerechten erlebt. Es müssen alle Warnlampen und Signalhupen dieser Welt angegangen sein, aber der Mensch hat sie übersehen und überhört. So hat eine der schönsten Platten der jüngsten Zeit diesen Makel, den man natürlich übersehen kann und darf, aber jedes Kind weiß doch, dass Mozarts Fantasie in c-Moll steht und nicht in C-Dur. Und dass auch die parallele Klaviersonate in c-Moll steht und nicht in C-Dur. Das Cover aber bietet lauter Fehlinformationen. Und auch hinten im Booklet gehen die Tongeschlechter quer durcheinander.
Man möge dies alles dieser Aufnahme nicht anrechnen, sie ist nämlich großartig. Der polnische Pianist Piotr Anderszewski, der eher zu den Leisen seiner Zunft zählt, hat auf seiner neuen Platte zwei große Komponisten – nein, nicht gegeneinander in Stellung gebracht, sondern miteinander kommunizieren lassen. Also: Wie viel Schumann steckt bereits in Wolfgang Amadeus Mozarts grandioser c-Moll-Fantasie, und wie viel klassischen Geist borgt sich Robert Schumanns große C-Dur-Fantasie bei Mozart? In beiden Werken geht es um Form und Freiheit, Poesie und Prozess, Reife und Aufbruch.
Diese beiden Hauptwerke bekommen kostbare Sekundanten, „Moby Dick“: meisterhafte Inszenierung eines Klassikers Klaus Buhlert ist einer der besten Hörspiel-Regisseure überhaupt, und „Moby Dick“nach Herman Melvielle ist sein Meisterstück. Er hat den Klassiker so eingedampft, dass nicht bloß eine Inhaltsangabe übrig bleibt, sondern der Mythos erhalten wird. Buhlert bringt die Atmosphäre mit Dutzenden Sprechern zum Klingen. Das Ganze funktioniert wie ein Hörfilm, leitmotivisch kehrt ein Shanty wieder, den man als Ohrwurm eine Weile im Kopf haben wird. Die beste Stelle ist die, an der sich der Ich-Erzähler und sein Freund Queequeg zum ersten Mal begegnen. hols
HermanMelville: Texte, die die Traumata der Nachkriegszeit spiegeln Es ist der Klassiker der bundesrepublikanischen Nachkriegsliteratur: das Hörspiel „Träume“von Günter Eich (1907-1972). Als es 1951 erstmals gesendet wurde, hagelte es beim Sender Proteste der Zuhörer. Nein, so etwas wollte man zu Beginn des Wirtschaftswunders nun wirklich nicht mehr vorgesetzt bekommen – die Erinnerung an Deportation, an unheimliche Gefahren, an Termiten, die die Häuser zersetzen. Und zwischen den einzelnen Episoden traktierte Eich seine Zuhörer mit unerhörten Versen wie diesen: „Alles, was geschieht, geht dich an.“Das ist große Hörspielkunst, die heute noch glänzend funktioniert, auch wenn ihr nicht mehr die existenzielle Dringlichkeit von einst zu eigen ist. Das Hörspiel gibt es auch als Buch, das zwar nicht mehr die unglaubliche Unmittelbarkeit der Inszenierung vermitteln kann, aber doch auch ein Lesegenuss ist – vor allem die Gedichte. los
Günter Eich:
Piotr Anderszewski spielt Klavierfantasien