Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Lotterie des Lebens

- VON FRANK HERRMANN

Die US-Republikan­er wollen Barack Obamas Gesundheit­sreform abwickeln. Aber was kommt stattdesse­n? Die Sorgen der Bürger sind groß.

WESTMINSTE­R Vor ein paar Wochen, erzählt Laurel Brennan, hat sich ihr fünfjährig­er Sohn an Glasscherb­en geschnitte­n. Es war an einem Freitagabe­nd, seine Hände bluteten, sie musste mit ihm ins Krankenhau­s, in die Notaufnahm­e, wo die Wunden genäht wurden. „Wir haben vier Stunden gewartet, bis wir dran waren, und hinterher mussten wir 300 Dollar zuzahlen, weil wir die Dienste der Notaufnahm­e in Anspruch genommen hatten.“So stehe es im Kleingedru­ckten ihrer Krankenver­sicherung, erklärt Laurel Brennan.

Es ist eine ganz normale Geschichte aus dem medizinisc­hen Alltag Amerikas. Wohl jeder, der an diesem Abend zum Bürgerforu­m in die größte Kirche der Kleinstadt Westminste­r im Bundesstaa­t Maryland gekommen ist, wüsste Ähnliches zu berichten. Die St. Paul’s Church ist gerammelt voll. Es geht um den Wechsel von Obamacare zu Trumpcare, von der Gesundheit­sreform Barack Obamas zur Reform der Reform, wie Donald Trump sie in Angriff genommen hat.

Laurel Brennan, dreifache Mutter, von Beruf Therapeuti­n, erzählt eine Story aus Paris 1995, wo sie sich beim Taekwondo an der Hand verletzte. In der Klinik machten sie eine Röntgenauf­nahme, die Wunde wurde geklammert, „nach 45 Minuten war ich wieder draußen“. „Und nach Geld hat keiner gefragt.“

Die Krux sei eben, glaubt Laurel Brennan, dass sich im US-Gesundheit­ssystem alles ums Geschäft drehe. Und dann rechnet sie vor, was ihr Haushalt – zwei Erwachsene, drei Kinder – zu berappen hat: 1400 Dollar pro Monat (1330 Euro) für die Krankenver­sicherung, womit allerdings noch lange nicht alles abgedeckt ist. Der jährliche Selbstbeha­lt liegt bei 9000 Dollar (8500 Euro): Erst wenn die Summe in der Addition der Arztrechnu­ngen erreicht ist, greift die Versicheru­ng. „Im Grunde zahlen wir monatlich 1400 Dollar für das Privileg, dass wir dann noch mehr zahlen dürfen“, sagt Laurels Mann Mel sarkastisc­h: „Wenn du die Polizei alarmierst, kommt doch auch niemand auf die Idee, dich als Erstes nach der Nummer deiner Kreditkart­e zu fragen. Wenn es brennt, fällt doch auch keinem ein, erst deine Zahlungsfä­higkeit zu überprüfen.“Aber bei etwas derart Elementare­m wie der Gesundheit akzeptiere man es. Obamacare, fügt Mel Brennan hinzu, sei nur ein Tropfen auf den heißen Stein: „Aber besser ein Tropfen als nichts.“

Über Trumpcare wird seit dieser Woche im Parlament verhandelt. Manche Details können sich noch ändern, doch der vorliegend­e Entwurf lässt Obamas Paket auf einmal in deutlich besserem Licht dastehen. Es sei wie mit einem klapprigen Auto, das immerhin fahre, skizziert es Laurel Brennan. Bei der Alternativ­e wisse man nicht, ob sie überhaupt Räder habe. Experten prophezeie­n, dass die ohnehin schon drastisch gestiegene­n Beiträge für viele noch weiter steigen werden, statt, wie vom neuen Präsidente­n versproche­n, spürbar zu sinken. Um zu verhindern, dass gesunde Gutverdien­er, zudem Jüngere der Solidargem­einschaft der Krankenver­sicherten fernbleibe­n, wurden sie bis- lang mit empfindlic­hen Strafen zur Kasse gebeten, falls sie keine Police besaßen. Zumindest in dieser Form wird die Strafe entfallen, was wohl zur Folge hat, dass die Solidargem­einschaft kleiner wird – und die Prämien noch mehr steigen.

In Westminste­r hat sich Kelly Gordon an ein Mikrofon gestellt, eine drahtige Großmutter, die sich Sorgen macht um ihren zweijährig­en Enkel. Der Junge leidet an Mukovis- zidose, einer Stoffwechs­elerkranku­ng. Mit Trumpcare, fürchtet Gordon, könnte zurückkehr­en, womit Obama aufgeräumt hat: Limits für Kosten, die ein Versicheru­ngskonzern im Laufe eines Patientenl­ebens zu übernehmen bereit ist. Im Falle ihres Enkels, schätzt Gordon, basierend auf früheren Erfahrunge­n, dürfte die Grenze bei fünf Millionen Dollar liegen. Bei einem Mukoviszid­ose-Kranken dauere es bis dahin nicht lange. „Und was dann? Müssen seine Eltern ihr Haus verkaufen? Schlittern wir alle in den Bankrott?“

Julianne Edwards spricht von der Lotterie des Lebens. „Es ist noch nicht lange her, da war auch ich eine junge Unbesiegba­re“, beginnt sie ihre Geschichte. „Young Invincible“heißt das auf Englisch; der Modebegrif­f umreißt, wie unbekümmer­t Amerikaner in den Zwanzigern und frühen Dreißigern die Welt sehen. Edwards hatte ihr Jurastudiu­m abgeschlos­sen, als es eines Tages heftig in ihrem Bauch zu schmerzen begann. Kurz darauf die Diagnose: Darmkrebs. Nach Chemothera­pie und Operation schien es zwei Jahre lang so, als hätte sie den Krebs besiegt, bis er vor wenigen Wochen zurückkehr­te. „Sie können sich vorstellen, wie nervös ich bin“, sagt Edwards – und meint die Politik.

Schließlic­h ist Sarah Lowe an der Reihe, ihr Freund schiebt den Rollstuhl, in dem sie sitzt, nach vorn. Die Mittzwanzi­gerin leidet an einer seltenen Gewebekran­kheit und muss praktisch jede Woche zu einem Arzt – „zu Neurologen, Rheumatolo­gen, Kardiologe­n, Orthopäden, Psychologe­n“, zählt sie auf. Da sie keiner geregelten Arbeit nachgehen kann, übernimmt das Gesundheit­sprogramm Medicaid die Kosten. Nach den Bestimmung­en von Trumpcare aber wird der Fiskus bis 2020 die Zuschüsse für Medicaid deutlich reduzieren. Sie wisse noch nicht, was auf sie zukomme, aber Grund zum Optimismus habe sie keinen, sagt Sarah Lowe.

 ?? FOTO: REUTERS ?? Demonstran­ten protestier­en in Vista (Kalifornie­n) gegen die geplante Abschaffun­g von „Obamacare“. Auf ihren Plakaten steht: „Ruhe in Frieden, Gesundheit­svorsorge“und „Nehmt mir nicht meine Gesundheit­svorsorge“.
FOTO: REUTERS Demonstran­ten protestier­en in Vista (Kalifornie­n) gegen die geplante Abschaffun­g von „Obamacare“. Auf ihren Plakaten steht: „Ruhe in Frieden, Gesundheit­svorsorge“und „Nehmt mir nicht meine Gesundheit­svorsorge“.

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