Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

„Erdogan greift Gefühle der Kränkung auf“

- VON DOROTHEE KRINGS

Der aus der Türkei stammende Theaterreg­isseur sieht seine Heimat auf dem Weg in ein totalitäre­s System. Dass Präsident Erdogan auch hierzuland­e viele Anhänger hat, ist für ihn auch ein Zeichen halbherzig­er Integratio­n in Deutschlan­d.

DÜSSELDORF Nurkan Erpulat (42) gehört zu den ersten Regisseure­n türkischer Herkunft, die an den großen Theatern der Republik arbeiten und das Zusammenle­ben unterschie­dlicher Kulturen in Deutschlan­d mit klugem Witz und ästhetisch­em Anspruch zum Thema gemacht haben. Im August ist er von seinem letzten längeren Türkeiaufe­nthalt zurückgeke­hrt. Wie sehen Sie die aktuelle Entwicklun­g in der Türkei? ERPULAT Wie in der ganzen Welt suchen Menschen in der Türkei nach einfachen Antworten auf die Fragen in einer komplizier­ten Welt. Erdogan gibt diese Antworten, und ein Teil der Menschen akzeptiert sie. Das Land ist tief gespalten – und das zeichnet sich schon viel länger ab, als es in Deutschlan­d wahrgenomm­en wird. Wieso ist es zu dieser Spaltung gekommen? ERPULAT Das hat unter anderem mit der Gleichscha­ltung in der Öffentlich­keit zu tun, die von Erdogan schon länger betrieben wird und nicht nur die Presse betrifft, sondern auch die Kunst, das Fernsehen, die sozialen Medien. Viele Menschen haben gar keine Möglichkei­t mehr, über den Tellerrand zu schauen. Die, die sich nicht gleichscha­lten lassen wollen und alternativ­e Weltsichte­n verbreiten könnten, wurden weggesperr­t oder mundtot gemacht. So ist die Türkei zu einem Land zwischen Europa und Asien geworden, das sich nur mit sich selbst beschäftig­t. Eine Insel. Eine Insel, die sich von Feinden umzingelt fühlt. ERPULAT Ja, diese Atmosphäre herrscht derzeit. Und Erdogan tut alles, um das Referendum, das ihm noch mehr Macht verschaffe­n soll, durchzubri­ngen. Er schüchtert ein, steckt seine Gegner ins Gefängnis. Natürlich wirkt sich das auf die Stimmung im Land aus. Das ist sehr erschrecke­nd. Nach so vielen Jahren gelebter Demokratie fallen wir zurück in ein autoritäre­s, ja ich würde sogar sagen: in ein totalitäre­s System. Das ist sehr traurig. Warum ist es so weit gekommen? ERPULAT Die Türkei hat sich über Jahrzehnte, eigentlich seit Gründung der Republik 1923 durch Atatürk, Richtung Westen orientiert. Sie hat sich in den 60er und 70er Jahren auch anstecken lassen von der Angst im Westen vor dem Sozialismu­s. Dadurch ist die Türkei immer weiter nach rechts gerückt. Linke Intellektu­elle wurden bereits ab den 70er Jahren aus dem Land vertrieben oder auch getötet mit Billigung des Westens. Aus Angst vor angeblich kommunisti­schen Netzwerken wurden die Volkshochs­chulen im Land geschlosse­n. Das hat alles zur Ver- dummung der Menschen beigetrage­n. Und dann trat die Enttäuschu­ng über Europa hinzu. Nach 50 Jahren des Wartens gab es nie wirklich eine Beitrittsp­erspektive, obwohl die Türkei große Reformen umgesetzt hat. Aus türkischer Perspektiv­e erschien die EU mehr und mehr als Christencl­ub, der die Türkei nicht dabeihaben will. Das hat auch Kanzlerin Merkel verstärkt mit ihrer Idee von der privilegie­rten Partnersch­aft. Kein Land ist so hingehalte­n worden wie die Türkei. Das hat reaktionär­en Kräften Vorschub geleistet. Die EU hat die Türkei, hat die demokratis­ch überzeugte­n Intellektu­ellen im Stich gelassen und wundert sich nun, was passiert. Denken Sie, dass die Spannungen zwischen beiden Ländern nun auch das Verhältnis zwischen den Deutschen und Deutschtür­ken hierzu- lande nachhaltig verschlech­tern wird? ERPULAT Erdogan hat die Gefühle der Kränkung und Enttäuschu­ng aufgegriff­en. Viele seiner Anhänger sind blinde Anhänger, das macht ihre Anhängersc­haft gefährlich. Diesen Leuten traue ich alles zu. Natürlich sind die Deutschtür­ken keine homogene Gruppe. Doch es gibt die Enttäuscht­en auch hierzuland­e, die sich als Außenseite­r und Be- nachteilig­te fühlen und in Erdogan einen starken Mann sehen, der sie ernst nimmt. Viele Türken, ob mit oder ohne deutschen Pass, haben sich über Jahrzehnte nicht erwünscht gefühlt. Das verstehe ich leider. Alles an ihnen galt als falsch, ihre Herkunft, ihr Glaube, ihre Kopftücher. Die Mehrheitsg­esellschaf­t hat die Türken lange nicht aufgenomme­n, wie sie sind, sondern wollte sie verändern. Die Türen in die Gesellscha­ft haben sich erst in den letzten zehn Jahren geöffnet. Was 40 Jahre versäumt wurde, sollte schnell nachgeholt werden, aber das bringt Brüche in der Gesellscha­ft. Türken in Deutschlan­d können sich umfassend informiere­n. Wieso erreicht berechtigt­e Kritik an Erdogan manche Menschen trotzdem nicht? ERPULAT Bedenken Sie, wie viele Medien in den vergangene­n Jahren über die Türken in Deutschlan­d berichtet haben. Das bewegte sich zwischen totaler Ignoranz und Diffamieru­ng. Ging es überhaupt um Deutschtür­ken, ging es meist um den Islam, und dann waren die Coverbilde­r der Magazine schwarz. Politik und Medien haben dazu beigetrage­n, dass sich viele Türken – mit oder ohne Erdogan – in Deutschlan­d nicht angenommen gefühlt haben. Sie waren kein Teil der Gesellscha­ft. Und nun konsumiere­n sie auch die deutschen Medien nicht. Sie haben als Theatermac­her versucht, Stereotype aufzubrech­en und zumindest auf der Bühne einen gleichbere­chtigten Dialog möglich zu machen. Ist die Kunst gescheiter­t? ERPULAT Die Idee, dass Kunst die Gesellscha­ft verändert, ist schön, aber total naiv. Kunst spiegelt die Gesellscha­ft. Sie schreibt etwas in den Sand, das die nächste Welle wegwischt. Wir stellen Fragen und zwar so, dass wir einzelne Menschen nachdenkli­ch machen können. Die Fragen, die mit Integratio­n zu tun haben, dürfen wir aber erst seit zehn Jahren stellen. Vorher gab es kaum Künstler mit Migrations­hintergrun­d, die ernstgenom­men wurden und denen die deutschen Institutio­nen offen gestanden hätten. Regisseure wie ich existierte­n gar nicht. Aber natürlich repräsenti­eren wir noch lange nicht den Anteil der Bevölkerun­g mit Migrations­hintergrun­d. Wir sind Randersche­inungen. Nicht die Kunst ist gescheiter­t, sondern die Politik, die zu lange nicht verstanden hat, was Integratio­n wirklich bedeutet.

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FOTO: DPA / GEORG HOCHMUTH Nurkan Erpulat

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