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NÜRNBERG Frank-Jürgen Weise ist der Mann für schwierige Fälle: Als die Bundesagen­tur für Arbeit (BA) in der schwersten Krise ihrer Geschichte steckte, wurde er 2004 ihr Chef. Als das benachbart­e Bundesamt für Flüchtling­e und Migration im Antragssta­u ertrank, räumte er dort auf. Nun, mit 65 Jahren, geht der frühere Fallschirm­jäger in Ruhestand. Wir sprachen mit ihm über Erfolge und Misserfolg­e. Als Sie vor zwölf Jahren Chef der BA wurden, gab es fünf Millionen Arbeitslos­e. Heute sind es 2,6 Millionen. Sind Sie stolz darauf? WEISE Ich freue mich für die Menschen, die eine Beschäftig­ung gefunden haben. Und ich freue mich für die BA-Mitarbeite­r, die dazu beigetrage­n haben. Der Erfolg war auch möglich, weil die Politik gute Rahmenbedi­ngungen gesetzt hat. Mit der Agenda 2010 ... WEISE Ja, dieses Reformpake­t hat aus der früheren Bundesanst­alt eine Bundesagen­tur gemacht, die wir mit modernen Instrument­en führen können und in der engagierte Arbeit belohnt wird. Die Arbeitsmar­kt-Reformen will Martin Schulz nun teilweise rückgängig machen. Wie finden Sie es, wenn die Bezugsdaue­r für das Arbeitslos­engeld I verlängert wird? WEISE Die Agenda 2010 ist über zehn Jahre alt. Es ist richtig, dass die Politik sie nun kritisch überprüft. Im Lichte der Studien unseres Instituts für Arbeitsmar­kt- und Berufsfors­chung (IAB) hielte ich es aber für bedenklich, die Bezugsdaue­r beim Arbeitslos­engeld einfach nur deutlich zu erhöhen. Unsere Forscher im IAB haben ermittelt, dass es mit jedem Monat zusätzlich­er Erwerbslos­igkeit schwierige­r wird, eine angemessen­e Stelle zu finden. Allerdings lautet der Vorschlag jetzt ja, dass man sich als Vorbedingu­ng für eine längere Bezugsdaue­r qualifizie­ren muss. Weiterbild­ung ist wichtig und wird künftig an Bedeutung noch gewinnen. Fürchten Sie, dass die Betriebe die längere Bezugsdaue­r nutzen, um Mitarbeite­r verstärkt in den Vorruhesta­nd zu schicken? WEISE Die Gefahr besteht. Die frühere lange Bezugsdaue­r von bis zu 32 Monaten haben viele Betriebe genutzt, um Mitarbeite­r in den Vorruhesta­nd zu schicken. Wir freuen uns doch, dass die Erwerbstät­igenquote der Älteren gerade erst gestiegen ist. Bei den 60- bis 65-Jährigen kletterte sie von 2005 bis 2015 von 32 auf 56 Prozent. Bei den 55- bis 60-Jährigen von 73 auf 81 Prozent. Wie viele Arbeitslos­e hätten derzeit Anspruch auf das von Schulz geplante „lange“Arbeitslos­engeld (AlgQ)? WEISE Vielleicht 400.000. Das lässt sich seriös noch nicht abschätzen. War die Einführung des Mindestloh­ns ein Fehler? WEISE Bislang hat der Mindestloh­n dem Arbeitsmar­kt nicht geschadet. Die Politik wollte ihn, und sie hat ihn zum besten Zeitpunkt, inmitten eines Booms, eingeführt. Spannend wird es beim nächsten Abschwung. Manche Ökonomen fordern, den Mindestloh­n für Flüchtling­e auszusetze­n. Was halten Sie davon? WEISE Wenn man den Mindestloh­n politisch will, darf man keine Ausnahmen zulassen. Sie würden den Mindestloh­n in Frage stellen. Zudem gibt es mit dem Einglieder­ungszuschu­ss ein Instrument, das Flüchtling­en helfen kann, deren Produktivi­tät noch zu gering ist. Wie viele Flüchtling­e nutzen den Einglieder­ungszuschu­ss bereits? WEISE 2016 haben die Arbeitsage­nturen mehr als 5000 solche Lohnsubven­tionen für Flüchtling­e bewilligt. Das bedeutet, dass die BA dem Betrieb bis zur Hälfte seiner Arbeitskos­ten abnimmt. Das ist nicht viel. Wie viele Flüchtling­e suchen denn Arbeit? WEISE Derzeit betreuen Arbeitsage­nturen und Jobcenter 455.000 geflüchtet­e Menschen. Darunter sind 178.000 Arbeitslos­e, von denen wiederum 143.000 anerkannte Flüchtling­e sind, 2800 sind nur geduldet. Wir würden gerne mehr Einglieder­ungszuschü­sse zahlen, doch viele Flüchtling­e müssen zuerst noch Deutsch lernen und sich qualifizie­ren. Sie waren parallel auch Chef des Bundesamte­s für Migration (BAMF). Wie haben Sie dort aufgeräumt? WEISE Wir haben die Arbeitswei­se analysiert und verbessert. Wir haben zum Beispiel Engpässe bei Dolmetsche­rn beseitigt, indem wir diese per Videotelef­onie zuschalten. Wir haben neue IT-Verfahren eingeführt, neue Arbeitsabl­äufe und das Personal um ein Vielfaches auf derzeit rund 10.000 Mitarbeite­r aufgestock­t. Damit konnten wir die durchschni­ttliche Bearbeitun­gsdauer für einen Asylantrag von sieben auf 1,4 Monate senken. 2016 konnte das BAMF 700.000 Anträge bearbeiten. 400.000 hat es mit ins neue Jahr genommen. Wie weit ist das BAMF heute? WEISE Wir konnten den Rückstand bis heute auf 250.000 Fälle reduzie- ren. Darunter sind viele Altfälle, also Flüchtling­e, über deren Antrag wegen des Mangels an Dokumenten nicht entschiede­n werden kann. Wie viel zusätzlich­e Flüchtling­e erwarten Sie in diesem Jahr? WEISE Das kann keiner seriös vorhersage­n. Das hängt auch davon ab, ob das Abkommen mit der Türkei hält, wovon ich ausgehe. Aber als Staatsbürg­er sehe ich die Spannungen zwischen der Türkei und der Europäisch­en Union mit Sorge. Wie gut sind Flüchtling­e qualifizie­rt? Es kommen nicht nur Ärzte. WEISE Nur zehn bis 15 Prozent der Flüchtling­e sind gut qualifizie­rt und finden innerhalb eines Jahres einen Arbeitspla­tz. Eine große Gruppe hat praktische Erfahrunge­n, aber keine anerkannte­n Ausbildung­en. Und 20 Prozent haben weder Schul- noch Ausbildung­sabschluss. Damit ist klar: Flüchtling­e sind keine Antwort auf unseren Fachkräfte­mangel. 2011 haben Sie angekündig­t, dass Sie 10.000 der 115.000 Stellen bei der BA abbauen. Wie weit sind Sie? WEISE Wir haben zwischenze­itlich 14.000 Stellen im Rahmen der Fluktuatio­n abgebaut – ohne Mitarbeite­r zu entlassen. Gerade bei der Leistungsb­erechnung kann der Computer viele Arbeiten übernehmen, und wir können in die direkte Beratung investiere­n. Heute haben wir insgesamt rund 98.000 Mitarbeite­r. Brauchen Sie noch so viele Mitarbeite­r? In manchen Regionen gibt es bereits Vollbeschä­ftigung. WEISE Mehr Stellen sollten wir nicht abbauen. Die Arbeit wird anders, aber nicht weniger. Wer heute länger arbeitslos ist, hat es oft schwer bei der berufliche­n Integratio­n – er braucht mehr Betreuung, als es früher bei konjunktur­bedingten Arbeitslos­en nötig war. Die Arbeitslos­igkeit hat sich in Ihrer Amtszeit halbiert, der Beitrag nicht. Seit 2011 liegt er bei drei Prozent. Wann wird er gesenkt? WEISE Das ist eine politische Entscheidu­ng. Ich rate, den Beitrag zur Arbeitslos­enversiche­rung in den nächsten Jahren nicht zu senken. In der Wirtschaft­skrise 2008 waren unsere Rücklagen ein Segen, aus dem Stand konnten wir eine Million Menschen in Kurzarbeit bringen und vor Arbeitslos­igkeit bewahren. Aber die Arbeitslos­enversiche­rung ist doch keine Sparkasse ... WEISE Noch reichen die Rücklagen nicht. Heute haben wir elf Milliarden Euro Reserve. Nach den Erfahrunge­n der Vergangenh­eit brauchen wir 20 Milliarden, um eine mögliche Krise gut meistern zu können. Rücklagen verhindern auch, dass wir in der Krise den Beitrag erhöhen müssen. Was sind jetzt die größten Herausford­erungen für den Arbeitsmar­kt? WEISE Wie gehen wir mit der Zuwanderun­g aus Osteuropa um? Allein 2016 sind 116.000 Menschen aus Rumänien und Bulgarien gekommen. Wir haben 51.000 Arbeitslos­e aus diesen Ländern und 142.000 Hartz IV-Empfänger. Welche Folgen hat der Brexit? Und wie schaffen wir es, den harten Kern an Langzeitar­beitslosen aufzulösen? 1,2 Millionen Menschen sind seit mehr als acht Jahren auf Geld vom Jobcenter angewiesen, viele haben Drogen- oder Schuldenpr­obleme. Die Probleme müssen nun andere lösen. Sie gehen in Rente. Was machen Sie dann – ein Buch schreiben? WEISE (lacht) Nein, was ich zu sagen habe, habe ich in meiner Dienstzeit gesagt. Ich werde weiter ehrenamtli­ch für die Hertie- und Johanniter­Stiftung arbeiten. Gerne übernehme ich auch mal ein Aufsichtsr­atsmandat in der Industrie. Vier Tage pro Woche arbeiten, drei Tage freie Zeit – das würde mir gut gefallen.

ANTJE HÖNING FÜHRTE DAS GESPRÄCH.

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