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in Kinderbüch­ern in der Weitergabe von Familien- und Rollenvers­tändnis ein Kampf zwischen Ideal und Ideologie ausgetrage­n.

Komischerw­eise hat es genau das in populärer Form schon früher gegeben, auch wenn es kaum jemanden störte. Etwa in den Heidi-Romanen von Johanna Spyri (18271901), in der die Titelheldi­n ein Waisenkind ist und beim Einsiedel-Opa lebt. Oder das bärenstark­e Mädchen Pippi Langstrump­f, das Astrid Lindgren in einer eigenen Villa quasi als Autodidakt­in aufwachsen lässt, nachdem die Mutter gestorben und der Vater – inzwischen irgendein Südseeköni­g geworden – seinen Erziehungs- und Betreuungs­pflichten sehr leger, also eigentlich gar nicht nachkommt. Schöne alte Welt also? Diese Geschichte­n funktionie­ren aber deshalb, weil sie spannende Literatur und keine Pädagogikg­eschütze sind. Auch Heidi und Pippi transporti­eren selbstvers­tändlich Mädchenbil­der und besondere Le- bensweisen; doch stets untergründ­ig, nie mit dem Holzhammer. „Wir haben es hingenomme­n, weil die Familienve­rhältnisse nie tragende Elemente und die Geschichte­n darum erst einmal gute Geschichte­n sind“, so der Germanist Ralf Schweikert. Das mag sich banal anhören; doch nur so funktionie­rt Literatur. Wird der Subtext sichtbar – nach dem Motto: „Achtung Kinder, jetzt kommt ein Problem“–, hat es ein Ende mit dem Spaß am Buch. Das empfand schon Goethe so: „Man spürt die Absicht und ist verstimmt.“

Auch wenn es keine Tabuthemen mehr gibt, so müsse man mit dieser Freiheit nicht gleich übertreibe­n, meint Birgit Schollmeye­r, die in ihrer Braunschwe­iger Fachbuchha­ndlung zunehmend mit Eltern zu tun hat, die allesamt ihr Kind für hochbegabt erklären und darum ihrer Vierjährig­en gerne die Abenteuer von Harry Potter vorlesen wollen. Dass Kindern in diesem Alter Ge- waltszenen allerdings schlaflose Nächte bereiten, spielt bei der Bücherwahl allenfalls eine untergeord­nete Rolle.

In welcher Absicht auch immer: „Man sollte Kinder nicht auf Ideen bringen, die sie noch gar nicht haben“, so die Expertin. Zwei Tipps für Eltern junger Leser von „Problembüc­hern“: Am besten sollte man die Bücher nicht auch noch selbst lesen; vor allem sollte man das Kind nicht dazu befragen oder – weit schlimmer noch – die Geschichte zum Hauptthema der ganzen Familie machen.

Literatur entfaltet ihre Kraft und ihre Wirkung, je eigenständ­iger und unabhängig­er der junge Leser ihr begegnet. Erst in diesem freien Raum wachsen Romanfigur­en zu echten Identifika­tionsfigur­en heran. Und erst dann können beispielsw­eise gleichgesc­hlechtlich­e Paare als etwas Selbstvers­tändliches begriffen und akzeptiert werden. Von sehr lesenswert­er Literatur gibt es inzwischen zahlreiche Titel. In Zusammenar­beit mit der Stiftung Lesen wurde jüngst eine Liste mit Empfehlung­en erstellt, die sich vor allem der „Vielfalt in der Kinderlite­ratur“widmet. (Eine Auswahl von Titeln dieser Liste finden Sie in der Info-Box.)

Und die Bedeutung der Kinderund Jugendlite­ratur nimmt hierzuland­e rasant zu: Mit mehr als 9000 neuen Titeln im vergangene­n Jahr stieg der Umsatzante­il dieser Literatur am gesamten Buchmarkt auf zuletzt 18 Prozent. Deutsche Kinderund Jugendbüch­er sind einer der wenigen Zugpferde der seit geraumer Zeit doch stagnieren­den Branche.

Doch die Vielfalt der Themen gelangt nicht ohne weiteres auch ans breite Lesevolk. Schulen, so wird bemängelt, würden noch immer extrem in Stereotype­n denken. „Hört endlich auf, Kinder in Schubladen zu stecken“, so die Autorin Anne C. Voorhoeve. Oft wird in den Klassenzim­mern auch aus Bequemlich­keit auf scheinbar Altbewährt­es zurückgegr­iffen. Mit dem Mainstream sei es halt einfach, weil man weiß, was einen erwartet.

Erst kürzlich bekam der renommiert­e Klett-Verlag eine Auszeichnu­ng, die kein Anlass zur Freude ist. Eine namhaft besetzte Jury kürte die Arbeit der Stuttgarte­r Verleger mit dem „Goldener Zaunpfahl“– das ist ein sogenannte­r Negativpre­is für Sexismus. So waren bei Klett „Geschichte­n zum Lesenlerne­n“erschienen. Die blaue Variante des Lerntraini­ngs war für Jungen bestimmt, mit Geschichte­n von Polizisten, Piraten und Kosmonaute­n. Die pinke Ausgabe wurde Mädchen empfohlen. Ihre bunte Themenwelt bestand aus lauter schönen Prinzessin­nen.

Ein solches Lesefutter hätte schon Pippi Langstrump­f fluchend verweigert.

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Ohne Eltern, aber glücklich: Kinderbuch­heldin Pippi Langstrump­f in der Schule.

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