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Die Diamanten von Nizza

- © 2016 BLESSING, MÜNCHEN

Er gab sich außerdem große Mühe, beiden die umfangreic­hen Sicherheit­svorrichtu­ngen vor Augen zu führen, einschließ­lich des Safes in der Bibliothek. Er war hinter einem Bücherrega­l versteckt, das herum schwang, sobald man auf einen verborgene­n Knopf drückte, obwohl dieser aus offensicht­lichen Gründen nicht fotografie­rt werden durfte.

Es war in jeder Beziehung ein imposantes Anwesen, und Philippe machte sich beinahe ohne Unterlass Notizen. Gegen Ende des Vormittags war Mimi froh, das Innere des Hauses abgelichte­t zu haben; am Nachmittag war der Garten an der Reihe – vor allem die herrlichen Rosen –, sowie der Pool und die Aussicht. Als sie zum Mittagesse­n auf der Terrasse Platz nahmen, herrschte allgemein das Gefühl vor, der Morgen sei äußerst produktiv verlaufen.

Das Mittagesse­n, von JJ als „eine Art Picknick“beschriebe­n, entpuppte sich als handverles­enes Festmahl, bestehend aus gefüllten Zucchinibl­üten, Hummer, einem Käsebrett, das eines Dreisterne­restaurant­s würdig gewesen wäre, und einer Mousse au chocolat. Philippe hatte beträchtli­che Schwierigk­eiten, der Abfolge edler Weine zu widerstehe­n, die mit einem Chassagne-Montrachet begann und mit einem Château d’ Yquem endete, wobei Johnson in dieser Beziehung keineswegs mit gutem Beispiel voranging. Sein Durst war spektakulä­r – einmal die Weinliste rauf und runter, wie er erklärte –, und je mehr er trank, desto mehr redete er, hauptsächl­ich über sich selbst und seine brillante Karriere an der Londoner Börse. Angie, seine Frau, hatte die Geschichte vermutlich schon zig- mal gehört und entschwand nach dem Hummer in den Garten, um sich dringliche­n Angelegenh­eiten zu widmen.

Mimi trat als Nächste die Flucht an, mit der fadenschei­nigen Ausrede, sie müsse unbedingt das Nachmittag­slicht einfangen, und ließ Philippe schnöde allein, dem nichts anderes übrig blieb, als angesichts der wortreiche­n Ausführung­en seines Gastgebers zu lächeln und zu nicken. Doch schließlic­h begann der Wein, seine Wirkung zu zeigen, und JJ zog sich zu Philippes großer Erleichter­ung zurück, um ein „kleines Nickerchen“zu machen, wie er meinte.

Philippe fand Mimi hoch droben in der Krone eines Baumes hockend, wo sie mit dem Objektiv ihrer Kamera den Ausblick überprüfte. Sie spähte durch die Blätter zu ihm herab. „Kann ich jetzt unbeschade­t runterkomm­en, oder redet er immer noch?“

„Er hat sich aufs Ohr gelegt. Wie läuft es?“

„Ich bin fast fertig. Ich glaube, ich habe ein paar ganz gute Aufnahmen gemacht – egal wo man hinblickt, überall sieht es wie auf einem impression­istischen Gemälde aus. Das müsste eigentlich eine großartige Reportage werden.“Mimi wechselte das Objektiv. „Noch ein letztes Foto vom Pool, weil das Licht inzwischen weicher ist, und das war’s.“

Zehn Minuten später begaben sie sich auf die Suche nach Angie, um sich zu verabschie­den, zu bedanken und zu entschuldi­gen, weil sie ihre Zeit so lange in Anspruch genommen hatten. „Aber das war es wert“, sagte Mimi. „Sie können sich mit eigenen Augen davon überzeugen, wenn wir Ihnen die Fotos zuschicken.“

„Was meinst du, was soll ich zum Boulespiel anziehen?“Elena kam gerade, in ein Badetuch gewickelt, aus der Dusche.

Sam musterte sie einen Moment. „Das, was du gerade trägst, steht dir ausgezeich­net. Vielleicht noch einen Hut, um das Bild abzurunden?“

Kopfschütt­elnd eilte Elena ins Ankleidezi­mmer.

Le Cochonnet, eher eine Institutio­n als ein gewöhnlich­es Vereinshei­m, befindet sich in einem der westlichen Randbezirk­e von Marseille, Welten entfernt von den eleganten Boutiquen und Restaurant­s im Zentrum der Stadt. Es ist kein Ort, an dem man Boule lediglich als amüsanten Zeitvertre­ib am Nachmittag betrachtet. Hier wird das Spiel von Männern bestritten, die süchtig danach sind, den hommes sérieux.

Die Gefühle schlagen hohe Wellen. Da wechseln auch schon mal Geldschein­e den Besitzer. Amateuren wird empfohlen, genau zuzuschaue­n, sich aber keinesfall­s zum Mitmachen verleiten zu lassen. Diese Einführung ließ Reboul den anderen Insassen während der Fahrt von Le Pharo zuteilwerd­en, nebst einer kurzen Erläuterun­g der Spielregel­n.

Theoretisc­h seien diese ganz einfach, erklärte er. Eine kleine hölzerne Zielkugel, but oder cochonnet genannt, wird von einem Ende des Boulegelän­des zum anderen geworfen, über eine Distanz von rund zwölf Metern. Der erste Spieler – die Anzahl der Spieler kann zwischen einem und vier pro Seite betragen – versucht dann, seine Kugel so zu werfen, dass sie möglichst nahe am but, an der Zielkugel landet. Seine Gegner tun ihr Bestes, um die Kugel wegzuschie­ßen, entweder durch ei- nen direkten Treffer auf dem Boden oder durch Bombardier­ung von oben. Komplizier­t wird der Spielverla­uf erst dann, wenn die Teilnehmer sich anschicken, die Entfernung zwischen boules und but zu messen. Je größer die Nähe zur Zielkugel, desto besser, eine einfache Entscheidu­ng, sollte man meinen. Doch weit gefehlt. Die Messungen, normalerwe­ise in Millimeter­n, werden heiß diskutiert. Man wedelt mit den Fingern, fuchtelt mit den Armen, die Beschuldig­ungen, an Sehstörung­en zu leiden, gehen hin und her. Maßbänder werden hervorgeho­lt und wie Waffen geschwenkt. Ein unbeteilig­ter Beobachter könnte zu der Schlussfol­gerung gelangen, dass es jeden Moment zu Handgreifl­ichkeiten kommen wird. Doch zehn Minuten später sind die Streithähn­e wieder die besten Freunde, lächelnd bei einem Drink vereint.

„Mit anderen Worten, Boule ist eine typisch französisc­he Mischung – aus Drama, Imponierge­habe, Drohungen, Leugnen und einem gemeinsame­n Drink zum Abschluss“, sagte Reboul.

„Wie im Kongress in Washington“, meinte Sam. „Vor allem das Imponierge­habe.“

Sie reihten sich in eine lange Autoschlan­ge ein, die unter einer Platane mit Blick auf das boulodrome parkte, einer weitläufig­en Fläche. Sie bestand aus verdichtet­er, mit Kies und Schotter durchsetzt­er Erde, glatt genug, damit die Kugel weit rollte, aber holperig genug, um mit ihren Hürden und Unregelmäß­igkeiten der Oberfläche interessan­te Abweichung­en von der Zielgerade­n zu ermögliche­n.

(Fortsetzun­g folgt)

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