Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch
Die Diamanten von Nizza
Er gab sich außerdem große Mühe, beiden die umfangreichen Sicherheitsvorrichtungen vor Augen zu führen, einschließlich des Safes in der Bibliothek. Er war hinter einem Bücherregal versteckt, das herum schwang, sobald man auf einen verborgenen Knopf drückte, obwohl dieser aus offensichtlichen Gründen nicht fotografiert werden durfte.
Es war in jeder Beziehung ein imposantes Anwesen, und Philippe machte sich beinahe ohne Unterlass Notizen. Gegen Ende des Vormittags war Mimi froh, das Innere des Hauses abgelichtet zu haben; am Nachmittag war der Garten an der Reihe – vor allem die herrlichen Rosen –, sowie der Pool und die Aussicht. Als sie zum Mittagessen auf der Terrasse Platz nahmen, herrschte allgemein das Gefühl vor, der Morgen sei äußerst produktiv verlaufen.
Das Mittagessen, von JJ als „eine Art Picknick“beschrieben, entpuppte sich als handverlesenes Festmahl, bestehend aus gefüllten Zucchiniblüten, Hummer, einem Käsebrett, das eines Dreisternerestaurants würdig gewesen wäre, und einer Mousse au chocolat. Philippe hatte beträchtliche Schwierigkeiten, der Abfolge edler Weine zu widerstehen, die mit einem Chassagne-Montrachet begann und mit einem Château d’ Yquem endete, wobei Johnson in dieser Beziehung keineswegs mit gutem Beispiel voranging. Sein Durst war spektakulär – einmal die Weinliste rauf und runter, wie er erklärte –, und je mehr er trank, desto mehr redete er, hauptsächlich über sich selbst und seine brillante Karriere an der Londoner Börse. Angie, seine Frau, hatte die Geschichte vermutlich schon zig- mal gehört und entschwand nach dem Hummer in den Garten, um sich dringlichen Angelegenheiten zu widmen.
Mimi trat als Nächste die Flucht an, mit der fadenscheinigen Ausrede, sie müsse unbedingt das Nachmittagslicht einfangen, und ließ Philippe schnöde allein, dem nichts anderes übrig blieb, als angesichts der wortreichen Ausführungen seines Gastgebers zu lächeln und zu nicken. Doch schließlich begann der Wein, seine Wirkung zu zeigen, und JJ zog sich zu Philippes großer Erleichterung zurück, um ein „kleines Nickerchen“zu machen, wie er meinte.
Philippe fand Mimi hoch droben in der Krone eines Baumes hockend, wo sie mit dem Objektiv ihrer Kamera den Ausblick überprüfte. Sie spähte durch die Blätter zu ihm herab. „Kann ich jetzt unbeschadet runterkommen, oder redet er immer noch?“
„Er hat sich aufs Ohr gelegt. Wie läuft es?“
„Ich bin fast fertig. Ich glaube, ich habe ein paar ganz gute Aufnahmen gemacht – egal wo man hinblickt, überall sieht es wie auf einem impressionistischen Gemälde aus. Das müsste eigentlich eine großartige Reportage werden.“Mimi wechselte das Objektiv. „Noch ein letztes Foto vom Pool, weil das Licht inzwischen weicher ist, und das war’s.“
Zehn Minuten später begaben sie sich auf die Suche nach Angie, um sich zu verabschieden, zu bedanken und zu entschuldigen, weil sie ihre Zeit so lange in Anspruch genommen hatten. „Aber das war es wert“, sagte Mimi. „Sie können sich mit eigenen Augen davon überzeugen, wenn wir Ihnen die Fotos zuschicken.“
„Was meinst du, was soll ich zum Boulespiel anziehen?“Elena kam gerade, in ein Badetuch gewickelt, aus der Dusche.
Sam musterte sie einen Moment. „Das, was du gerade trägst, steht dir ausgezeichnet. Vielleicht noch einen Hut, um das Bild abzurunden?“
Kopfschüttelnd eilte Elena ins Ankleidezimmer.
Le Cochonnet, eher eine Institution als ein gewöhnliches Vereinsheim, befindet sich in einem der westlichen Randbezirke von Marseille, Welten entfernt von den eleganten Boutiquen und Restaurants im Zentrum der Stadt. Es ist kein Ort, an dem man Boule lediglich als amüsanten Zeitvertreib am Nachmittag betrachtet. Hier wird das Spiel von Männern bestritten, die süchtig danach sind, den hommes sérieux.
Die Gefühle schlagen hohe Wellen. Da wechseln auch schon mal Geldscheine den Besitzer. Amateuren wird empfohlen, genau zuzuschauen, sich aber keinesfalls zum Mitmachen verleiten zu lassen. Diese Einführung ließ Reboul den anderen Insassen während der Fahrt von Le Pharo zuteilwerden, nebst einer kurzen Erläuterung der Spielregeln.
Theoretisch seien diese ganz einfach, erklärte er. Eine kleine hölzerne Zielkugel, but oder cochonnet genannt, wird von einem Ende des Boulegeländes zum anderen geworfen, über eine Distanz von rund zwölf Metern. Der erste Spieler – die Anzahl der Spieler kann zwischen einem und vier pro Seite betragen – versucht dann, seine Kugel so zu werfen, dass sie möglichst nahe am but, an der Zielkugel landet. Seine Gegner tun ihr Bestes, um die Kugel wegzuschießen, entweder durch ei- nen direkten Treffer auf dem Boden oder durch Bombardierung von oben. Kompliziert wird der Spielverlauf erst dann, wenn die Teilnehmer sich anschicken, die Entfernung zwischen boules und but zu messen. Je größer die Nähe zur Zielkugel, desto besser, eine einfache Entscheidung, sollte man meinen. Doch weit gefehlt. Die Messungen, normalerweise in Millimetern, werden heiß diskutiert. Man wedelt mit den Fingern, fuchtelt mit den Armen, die Beschuldigungen, an Sehstörungen zu leiden, gehen hin und her. Maßbänder werden hervorgeholt und wie Waffen geschwenkt. Ein unbeteiligter Beobachter könnte zu der Schlussfolgerung gelangen, dass es jeden Moment zu Handgreiflichkeiten kommen wird. Doch zehn Minuten später sind die Streithähne wieder die besten Freunde, lächelnd bei einem Drink vereint.
„Mit anderen Worten, Boule ist eine typisch französische Mischung – aus Drama, Imponiergehabe, Drohungen, Leugnen und einem gemeinsamen Drink zum Abschluss“, sagte Reboul.
„Wie im Kongress in Washington“, meinte Sam. „Vor allem das Imponiergehabe.“
Sie reihten sich in eine lange Autoschlange ein, die unter einer Platane mit Blick auf das boulodrome parkte, einer weitläufigen Fläche. Sie bestand aus verdichteter, mit Kies und Schotter durchsetzter Erde, glatt genug, damit die Kugel weit rollte, aber holperig genug, um mit ihren Hürden und Unregelmäßigkeiten der Oberfläche interessante Abweichungen von der Zielgeraden zu ermöglichen.
(Fortsetzung folgt)