Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch
Der Zehn-Punkte-Plan für NRW
DÜSSELDORF Wenn Axel Seidel über die Zukunft von NRW sinniert, erzählt der Familienvater zuerst von seinem Ärger als Pendler von Köln ins Büro in Düsseldorf. „Die zerstörte Brücke auf der A57 macht die Autobahn morgens noch immer zu einem Parkplatz, die Autobahnbrücke nach Leverkusen zur A3 ist mit ihrer Sperrung für Lkw ein Desaster. Und nun herrscht auch noch Chaos auf der Bahnstrecke“, sagt der NRWChef der Wirtschaftsforschung Prognos. Nun hofft er auf die neue Brücke und den Rhein-Ruhr-Express (RRX) in einigen Jahren.
Viel größere Sorgen machen Seidel und seinen Kollegen jedoch vor allem die langfristigen Perspektiven des Landes. Die Unternehmen im bevölkerungsreichsten Bundesland waren einst Speerspitze des Fortschritts, 2016 wurden nur 7068 Patente angemeldet, Bayern und Baden-Württemberg verbuchten die doppelte Anzahl. Als Prognos die 402 Städte und Landkreise in Deutschland nach ihrer Zukunftsfähigkeit inklusive Arbeitskräfteangebot und Innovationen verglich, lag Düsseldorf als beste NRW-Stadt erst auf Platz 21. „Diese Werte zeigen, dass NRW bei der Innovationsfähigkeit aufholen muss“, sagt Seidel, „sonst drohen wir weiter abzurutschen in Relation zu anderen Ländern.“
Wie es mit NRW weitergehen sollte, beschreibt ein achtköpfiges Prognos-Team in einer Analyse für unsere Redaktion. Dabei komme es auf zehn Themen an. 1. Innovation Die Wirtschaftsforscher halten es für notwendig, stärker wirkliche Gründer zu fördern, die etwas völlig Neues wagen. Die Landesregierung helfe eher Unternehmen bei ihrer Weiterentwicklung. „Wir brauchen Disruptoren, die wie Google oder Facebook völlig neue Geschäftsmodelle entwickeln“, sagt Olaf Arndt von Prognos. So solle es mehr regionale Gründer- und Innovationsfonds geben, wie sie jüngst der Initiativkreis Ruhr für seine Region aufgelegt hat. Arndt begrüßt zwar, dass das Land in sechs so genannten Digihubs Gründer mit Traditionsfir- men zusammenbringt, meint aber, dass weitergehende Initiativen nötig seien. Förderangebote in NRW seien oft so kompliziert, dass es Gründern schwerfällt, das passende Angebot zu finden. „NRW ist weit entfernt von einer koordinierten Gründungsförderung.“ 2. Wissenstransfer Der Rückstand von NRW bei Innovationsausgaben liegt daran, dass hiesige Unternehmen relativ wenig forschen. Hochschulen wie die RWTH Aachen geben hingegen insgesamt so viel Geld für Forschung- und Entwicklung aus wie Hochschulen in anderen Ländern. Prognos folgert daraus, dass NRW mehr tun muss, damit Know-how aus den Hochschulen gerade kleineren Firmen nutzt. „Wir haben ein beträchtliches Ausbaupotenzial im Wissens- und Technologietransfer“, sagt Prognos-Mann Arndt und folgert: „Um beispielsweise bei erneuerbaren Energien und intelligenten Werkstoffen vorne zu liegen, sollten gerade kleinere Firmen einen leichteren Zugang zu den Hochschulen haben.“Er ergänzt aber auch, dass es bereits viele Pilotprojekte wie „Currywurst & Bier“an der Universität DuisburgEssen gebe, bei denen junge Firmengründer und Wissenschaftler zusammenkommen. 3. Personenverkehr „Das Projekt des Rhein-Ruhr-Expresses (RRX) zwischen Ruhrgebiet und Rheinland muss weitergedacht werden“, sagt Seidel. Er ergänzt: „Verkehrsverbünde müssen besser zusammenarbeiten. Wir brauchen eine App, mit der Kunden Fahrkarten quer durch alle Verkehrsverbünde kaufen können.“Außerdem solle es nicht nur einzelne Radschnellwege (wie sie im Ruhrgebiet oder in Düsseldorf geplant sind) geben, sondern einen Querverbund. „Auf Dauer sollte NRW ein integriertes Radschnellwege-Netz mit entsprechender E-Infrastruktur anpeilen“, sagt der Kaufmann. „Pedelecs und E-Bikes werden bei Pendlern beliebter.“ 4. Gütertransport Der Anschluss an die Betuwe-Güterzuglinie von der deutsch-niederländischen Grenze nach Rotterdam solle realisiert werden. „Die nächste Landesregierung sollte den Anschluss so schnell wie es geht vorantreiben, damit NRW als Logistikstandort gestärkt wird“, sagt Prognos-Verkehrsexperte HansPaul Kienzler. „Ohne bessere Infrastruktur droht Stau ohne Ende.“ 5. Gewerbeflächen Prognos rät, Gewerbeflächen viel großzügiger zu erlauben. Besonders wichtig sei dabei, die Industrie zu stärken. 6. Breitband Das Land soll den Ausbau schneller Online-Anschlüsse weiter fördern. Für Gewerbegebiete sollte aus Sicht von Prognos ein Sonderprogramm mit Glasfaseranschlüssen geprüft werden. 7. Investoren Die Forscher loben, dass 31 Prozent der ausländischen Direktinvestitionen in Deutschland nach NRW gehen. Allerdings weisen sie auf ein Risiko hin: Ausländische Investoren könnten die Lage von NRW im Zentrum Europas für Logistik oder die Zentrale nutzen, hochwertige Arbeiten jedoch woanders erledigen. So habe das chinesische Technologieunternehmen Huawei zwar seine Europazentrale in Düsseldorf, die einzige Produktionsstätte werde jedoch in Bayern gebaut. „NRW muss darauf achten, sich auch als Standort für wissensintensive Industrien zu profilieren“, sagt Arndt. 8. Fachkräfte Schon im Jahr 2015 konnten in NRW 190.000 Stellen nicht besetzt werden, heißt es in der Prognos-Analyse, bis 2030 drohe eine Lücke von rund 640.000 qualifizierten Mitarbeitern. Das Gute daran: Auch NRW könnte so wie Bayern ein Land der Vollbeschäftigung werden. Das Problem: Viele Arbeitslose sind für viele Jobs gar nicht geeignet. Also schlagen die PrognosForscher vor, Müttern (und manchen Vätern) die Erwerbstätigkeit durch bessere Betreuungsmöglichkeiten zu erleichtern. Bessere Online-Anschlüsse gerade auf dem Land sollten für Heimarbeit ausgebaut werden.
NRW war einmal Herz der deutschen Industrie. Jetzt gibt es zu wenige Innovationen. Das Forschungsinstitut Prognos entwirft für die nächste Landesregierung ein Programm für den Fortschritt – egal, wer die Wahl im Mai gewinnt.
9. Grüne Industrien Als großer Erfolg wird gesehen, dass rund fünf Prozent der Unternehmen bereits im Zukunftsgeschäft Umwelttechnik und -wirtschaft mitmischen. Oliver Lühr, Experte für grüne Technologien bei Prognos, hält es für gut denkbar, dass die Zahl der im Umweltbereich tätigen Mitarbeiter von 350.000 im Jahr 2015 auf 400.000 im Jahr 2025 wächst. Die Landesregierung habe die Aufgabe, kleineren und mittleren Unternehmen bei der Vermarktung und Entwicklung zu helfen. „Grüne Industrien wachsen deutlich schneller als klassische Industrien, da gibt es gerade bei Exporten noch große Chancen.“ 10. Wohnungen Prognos sieht das Wachstum in Boom-Regionen wie Köln, Düsseldorf und Münster als gefährdet an, wenn es nicht genügend Wohnraum für hinzuziehende Bürger gibt. Als Gegenreaktion wird unter anderem gefordert, Bauland schneller zu aktivieren und bei Bauvorschriften zu überprüfen, ob sie ein Haus nicht zu teuer machen. MindenLübbecke Herr Seidel, wo liegt das Hauptproblem von NRW? Immer noch der Abschied von Kohle und Stahl? SEIDEL Aus unserer Sicht ist der Strukturwandel bezogen auf wirtschaftliche Kennzahlen abgeschlossen. Wir haben in NRW aber eine zu niedrige Innovationsquote. Als unabhängige Zukunftsforscher sagen wir, dass die Landesregierung auf Gründungen und damit auf junge, innovative Unternehmen setzen sollte. Die Digital Hubs im Land sind hierfür eine sehr gute Basis. Wir brauchen ein digitales Ökosystem mit jungen und alten Unternehmen sowie der herausragenden Forschungslandschaft. Infrastruktur ist das große Thema? SEIDEL Ja, in jeder Beziehung. NRW ist und bleibt das Verkehrsdrehkreuz für Deutschland, wenn nicht für Europa. Hier gilt es, nachdem es die Investitionszusagen des Bundes gibt, nun einen Masterplan Infrastruktur zu initiieren, damit die Investitionen auch in fertige und damit nutzbare Verkehrs- und Schienensysteme umgesetzt werden. Bei Infrastruktur nur an Verkehr zu denken, ist aus Sicht der Prognos aber zu kurz gesprungen. Schnelles Internet und damit ein flächendeckender Breitbandausbau sind mindestens genauso wichtig. Wirtschaftsthemen sind für die Bevölkerung bei Wahlen nicht mehr so wichtig, eher soziale Gleichheit und Kampf gegen Kriminalität. Was sagen Sie dazu? SEIDEL Das sehe ich anders. Wirtschaftliche Prosperität ist und bleibt die beste Sozialpolitik. Nur dadurch lassen sich soziale Ungleichheiten abbauen. Der eingeschlagene Weg der Präventionspolitik in NRW muss aus Sicht der Prognos weitergegangen werden. Dies gepaart mit einem entschlossenen staatlichen Handeln ohne Sozialromantik ist die Basis für innere Sicherheit. Was ist mit den Flüchtlingen? SEIDEL Sie müssen so schnell wie es geht Deutsch lernen und dann eine Ausbildung bekommen. So können sie helfen, dem drohenden Fachkräftemangel gegenzuhalten.