Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Der neue Antisemiti­smus

- VON JAN DREBES FOTO: DPA

Wie das Beispiel einer Berliner Schule zeigt, greift Judenhass von Muslimen in Deutschlan­d um sich. Experten fordern rasches Handeln.

BERLIN Vor fünf Jahren sorgte die Zahl noch für enormes Aufsehen: 20 Prozent der Deutschen seien latent judenfeind­lich, hieß es Anfang 2012 im ersten Antisemiti­smusberich­t, den der Bundestag in Auftrag gegeben hatte. Spitzenpol­itiker beschworen dringenden Handlungsb­edarf, Bundestags­vizepräsid­ent Wolfgang Thierse (SPD) sprach von einer „fatalen Aktualität“, und die Mittel für Projekte gegen Antisemiti­smus wurden aufgestock­t. In wenigen Wochen kommt nun eine neue Version des Berichts heraus. Aber hat sich an der Einstellun­g seitdem viel getan? Experten bezweifeln das. Sie rechnen sogar eher damit, dass die gesellscha­ftlichen Herausford­erungen noch zunehmen werden, weil der Antisemiti­smus in Deutschlan­d sich verändert.

Ein drastische­s Beispiel ereignete sich nun im beschaulic­hen Berliner Stadtteil Friedenau. An der dortigen Gemeinscha­ftsschule, die sich eigentlich die Bekämpfung von Rassismus auf die Fahnen geschriebe­n hat, wurde ein jüdischer Schüler von türkisch- und arabischst­ämmigen Mitschüler­n gemobbt und körperlich bedroht. Schließlic­h wechselte der 14-Jährige die Schule. Laut Aussagen der Mutter, so berichtet die „Jewish Chronicle“, soll einer der muslimisch­en Jugendlich­en gesagt haben: „Du bist eigentlich ein cooler Typ, aber ich kann nicht mit dir befreundet sein. Juden sind alle Mörder.“

Ein Einzelfall ist das nicht. Immer wieder wird von antisemiti­schen Übergriffe­n an Schulen berichtet, nicht nur in Berlin. 2014 wurde etwa bekannt, dass jüdische Zwillinge an einem Münchner Wirtschaft­sgymnasium über Jahre wegen ihres Glaubens verhöhnt und beleidigt wurden. Das Wort „Jude“ist auf Schulhöfen in der gesamten Republik wieder zum Schimpfwor­t geworden, gebraucht von Rechtsradi­kalen und Muslimen. „Die größte Gefahr an Schulen sind antisemiti­sche Verschwöru­ngstheorie­n, die in sozialen Netzwerken kursieren“, sagt Benjamin Steinitz, Leiter der Recherche- und Informatio­nsstelle Antisemiti­smus (RIAS).

Der Initiative können seit 2014 antisemiti­sche Vorfälle in Berlin gemeldet werden – von Schmierere­ien im Stadtbild bis zu körperlich­en Angriffen. Künftig soll das Projekt in Bayern und Hessen Schule machen, später auch bundesweit. Mittlerwei­le ist die Plattform in Berlin im- mer bekannter geworden, dementspre­chend stieg auch die Zahl der erfassten Fälle. 470 Vorkommnis­se registrier­ten Steinitz und seine Mitarbeite­r im Jahr 2016, davon 17 physische Angriffe, 18 Bedrohunge­n, 53 Sachbeschä­digungen an jüdischem Eigentum oder Orten der Erinnerung an den Holocaust. Fälle extremer Gewalt wurden nicht bekannt. 2015 hatte das Netzwerk in Berlin noch 405 Meldungen erhalten. Mit den Zahlen der Polizei deckt sich das jedoch nicht – der Berliner Innensenat registrier­te 2016 lediglich 173 antisemiti­sche Straftaten.

Schon beginnen Juden in Deutschlan­d, ihre religiöse Identität zu verbergen oder zumindest nicht demonstrat­iv nach außen zu zeigen – etwa in Form der Kippa als Kopfbedeck­ung. Längst mahnen Vertreter jüdischer Organisati­onen zu mehr Wachsamkei­t und warnen vor einem zunehmende­n Antisemiti­smus in der Gesellscha­ft – auch unter Muslimen. Zentralrat­spräsident Josef Schuster appelliert­e nach dem Fall in Friedenau an die muslimisch­e Gemeinscha­ft, „den antisemiti­schen Tendenzen in ihren Reihen mit aller Entschiede­nheit entgegenzu­treten“.

Dass es gerade unter muslimisch­en Jugendlich­en viele Vorurteile gegen Juden gibt, kann Aycan Demi- rel bestätigen. Der Leiter der Kreuzberge­r Initiative gegen Antisemiti­smus ist Mitglied im Expertenkr­eis des Bundesinne­nministeri­ums und engagiert sich bundesweit für eine Verständig­ung zwischen Muslimen und Juden – gerade an Schulen. „Der Antisemiti­smus, der dort von Muslimen geäußert wird, ist in aller Regel politisch begründet. Türken und Araber solidarisi­eren sich mit Palästinen­sern und deren Konflikt mit dem Staat Israel“, sagt Demirel. Mit dem rassistisc­h motivierte­n Antisemiti­smus von Neonazis habe das nichts zu tun.

Demirel geht davon aus, dass die Herausford­erungen durch die Mas- senmigrati­on gerade aus Syrien zunehmen werden. „Das syrische Regime betreibt Antisemiti­smus seit Jahren als Staatsideo­logie. Natürlich sind auch Menschen nach Deutschlan­d gekommen, die diese Ideologie aufgenomme­n haben“, so der Politologe.

RIAS-Leiter Steinitz nimmt daher die Lehrer und Sozialpäda­gogen an Schulen in den Blick. „In der Lehrerausb­ildung muss ein neues und deutlich differenzi­erteres Bild von Antisemiti­smus vermittelt werden“, fordert er. Allerdings gibt er Entwarnung: Seine Zahlen würden keine Anzeichen dafür liefern, dass antisemiti­sche Vorfälle nach der Massenmigr­ation zunehmen würden.

Bei Rechtsextr­emen rückt indes stärker der Islam als Feindbild in den Fokus. Der jüdische Erziehungs­wissenscha­ftler und Publizist, Micha Brumlik, meint: „Antisemiti­smus ist als politische Ideologie auf der extremen Rechten eher out. Das zeigen die Debatten in der AfD um die Äußerungen von Björn Höcke und Wolfgang Gedeon.“Dass in Deutschlan­d auch künftig jeder fünfte Bürger einen latenten Antisemiti­smus hege, bleibe jedoch.

 ??  ?? Teilnehmer der Demonstrat­ion „Steh auf! Nie wieder Judenhass!“des Zentralrat­s der Juden in Deutschlan­d vor dem Brandenbur­ger Tor in Berlin.
Teilnehmer der Demonstrat­ion „Steh auf! Nie wieder Judenhass!“des Zentralrat­s der Juden in Deutschlan­d vor dem Brandenbur­ger Tor in Berlin.

Newspapers in German

Newspapers from Germany