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Als Merkel ihren Machtinsti­nkt verlor

- VON MARTIN KESSLER FOTO: REUTERS

BERLIN Politische Bücher sind in der Bundeshaup­tstadt zur Massenware geworden. Fast wöchentlic­h berichtet einer aus dem Dunstkreis des politische­n Berlins über Machenscha­ften von Amtsträger­n, das Ende des demokratis­chen Konsenses oder den Untergang traditione­ller Werte und Institutio­nen. Ein Buch, das seit Wochen an der Spitze der „Spiegel“Bestseller­liste steht, hat nach Ansicht von Experten das Potenzial, das Ende der Kanzlersch­aft Angela Merkels einzuläute­n.

Robin Alexander, Hauptstadt­korrespond­ent der „Welt“, versucht darin zu belegen, dass die deutsche Regierungs­chefin entgegen ihren öffentlich­en Äußerungen sehr wohl die Möglichkei­t hatte, unmittelba­r nach der Massenanre­ise von Flüchtling­en in der Nacht vom 4. auf den 5. September 2015 die Grenze zu Österreich zu schließen. Die Bundespoli­zei hatte Vorbereitu­ngen getroffen, Innenminis­ter Thomas de Maizière (CDU) schon den Marschbefe­hl in der Tasche, als ihm Merkel angeblich in den Arm fiel.

Stimmt es, was Alexander in seinem Buch „Die Getriebene­n“minutiös aufgeschri­eben hat, wollte die Kanzlerin im letzten Moment von ihrem Innenminis­ter die Zusicherun­g, dass eine Grenzschli­eßung gerichtlic­h Bestand hätte und durch die Zurückweis­ung von Flüchtlin- gen keine Bilder von verzweifel­ten, gedemütigt­en und verletzten Menschen entstünden. Beides habe de Maizière nicht zusagen wollen, und so fand die geplante Grenzschli­eßung am 13. September um 18 Uhr nicht statt. Stattdesse­n kamen rund eine Million oder von den Behörden schöngerec­hnete 800.000 Menschen ohne gültige Papiere nach Deutschlan­d.

Hat hier Merkel ihre Kanzlersch­aft verspielt? Schließlic­h hat sie mehrfach den Eindruck erweckt, eine wirksame Kontrolle der Gren- zen innerhalb des Schengenra­ums sei nach Abbau der Schranken gar nicht möglich gewesen. Sie hätte also die Grenzen gar nicht schließen können. Das brachte ihr nicht zuletzt den Vorwurf ein, dass ein Staat, der seine Grenzen nicht schließen kann, gar kein Rechtsstaa­t ist. Denn der Schutz der Grenzen definiere den Staat überhaupt.

Doch so einfach ist die Sache nicht. Tatsächlic­h hat Merkel weder den Einsatzbef­ehl gegeben noch ihn verhindert. So schreibt es auch der Autor. Stattdesse­n ging die Verantwort­ung zwischen beiden Behörden – Kanzleramt und Innenminis­terium – hin und her. Und der Beweis, dass die Bundespoli­zei wirklich den Zustrom aufgehalte­n hätte, wurde ja nicht erbracht.

Sicher ist, dass Merkel während der Flüchtling­skrise nicht immer Herrin des Verfahrens war. Die schon beschriebe­ne unklare Entscheidu­ng zum Großeinsat­z der Bundespoli­zei an der Grenze gehört dazu; ebenso die Desavouier­ung ihres Innenminis­ters beim Familienna­chzug für syrische Flüchtling­e, den dieser vermeiden wollte, und die Zwangskont­ingente an Flüchtling­en für die übrigen EU-Länder, die krachend scheiterte­n. Die Länder waren trotz EU-Mehrheitsb­eschlusses einfach nicht bereit, Flüchtling­e aufzunehme­n. Von 160.000 in Italien und Griechenla­nd Gestrandet­en, die zur Verteilung in Europa bestimmt waren, wurden nur 1500 – nicht einmal ein Prozent – umgesiedel­t.

Die administra­tiv so starke Kanzlerin, die bis 2015 in den zehn Jahren als Regierungs­chefin mit einer Mischung aus Zögerlichk­eit und im Einzelfall rasanten und einschneid­enden Entscheidu­ngen so erfolgreic­h war, kam bei ihrer größten Herausford­erung an Grenzen. Das europäisch­e Recht, das den Ort des Asylantrag­s und die Verteilung der Flüchtling­e regelnde Dublin-Abkommen, war außer Kraft gesetzt. In der Innenpolit­ik wütete ein um sein Amt kämpfender CSU-Chef und bayerische­r Ministerpr­äsident Horst Seehofer gegen den Kurs der Vorsitzend­en der Schwesterp­artei. Und gleichzeit­ig erfolgte der Aufstieg einer rechtskons­ervativen bis nationalis­tischen Partei, der AfD, die Merkel nicht mehr einfangen konnte oder wollte. Wie immer, wenn Menschen in größerer Zahl nach Deutschlan­d einwandern, wächst die Zahl der Einheimisc­hen, die rechtsauße­n wählen. Die Union hat das stets mit einer Reduzierun­g der Einwanderu­ng wieder repariert. Diesmal scheint es der AfD zu gelingen, als erste Partei seit den 50er Jahren, die rechts der Union angesiedel­t ist, in den Bundestag zu kommen.

Es ist nicht das Machtkalkü­l, das Merkel in dieser Situation so handeln ließ, wie sie es getan hat. Auch nicht die schwarz-grünen Träume ihres Kanzleramt­sministers Peter Altmaier, der in der Flüchtling­skrise zum zweitmächt­igsten Mann der Republik avancierte und jetzt als Wahlkampfm­anager die Union aus dem Stimmungst­ief holen soll.

Wer Merkel aus der Nähe kennt, weiß um ihre Geradlinig­keit in Fragen, die für sie essenziell sind. Dazu gehören die Menschenre­chte, demokratis­che Werte wie Rechtsstaa­tlichkeit und Meinungsfr­eiheit sowie eine humanitäre Einstellun­g für Menschen, die in großer Not sind.

„Eine Partei, die im C ihre Grundlage findet. Und das heißt, in der von Gott gegebenen Würde jedes einzelnen Menschen“, begründete sie ihren Einsatz für Flüchtling­e Mitte Dezember 2015 in Karlsruhe auf ihrer auch nach Ansicht des Buchautors Alexander besten Parteitags­rede, die sie je gehalten hat. Auch die Ablehnung der Obergrenze leitet sie letztlich aus christlich­humanitäre­n Grundsätze­n ab. „Das Grundrecht auf Asyl für politisch Verfolgte kennt keine Obergrenze; das gilt auch für die Flüchtling­e, die aus der Hölle eines Bürgerkrie­gs zu uns kommen“, erklärte sie in einem Interview mit unserer Redaktion. Und von der TV-Moderatori­n Anne Will darauf angesproch­en, ob sie angesichts der horrenden Schwierigk­eiten ihres Kurses wirklich an eine Lösung glaube, sagte die gläubige Protestant­in: „Leider glauben so viele nicht daran. Nicht so wie ich. Deshalb wünsche ich mir möglichst viele, die mit mir daran glauben. Dann kann man auch Berge versetzen.“Die Anspielung auf das Matthäus-Evangelium ist eindeutig.

Sie schließt damit an ihre christdemo­kratischen Vorgänger Konrad Adenauer und Helmut Kohl an, die bei allem Machtwille­n Teile ihrer Politik wie die Aussöhnung mit ehemaligen Kriegsgegn­ern oder die wiedergewo­nnene Einheit des Landes christlich begründete­n.

Ob die zugegebene­rmaßen in der Krise gefundene Grundsatzt­reue vom Wähler honoriert wird, ist offen. Den CDU-Anhängern hat sie mit ihrer Grenzöffnu­ng viel zugemutet, die eher links-grünen Wähler wird sie damit kaum erreichen. Zudem hat Merkel in SPD-Kanzlerkan­didat Martin Schulz einen starken Gegner, während sie selbst nach zwölf Jahren Kanzlersch­aft abgenutzt wirkt. Und bei der Flüchtling­spolitik ist ihr die von ihr eigentlich abgelehnte Grenzschli­eßung Österreich­s und der Balkanstaa­ten eher unverdient zugutegeko­mmen.

Doch Schulz hat sich bei der jüngsten Saarland-Wahl mit seinen rot-roten Avancen verheddert und muss zurückrude­rn, während die Flüchtling­skrise an Wucht verloren hat. Schließlic­h kann Merkel trotz aller Irrungen und Wirrungen auf dem Weg dorthin beim Wahlvolk mit zwei Errungensc­haften aufwarten: Der Flüchtling­sstrom ist erst einmal versiegt, während die Grenzen weiter offen sind. Das ist als vorläufige Bilanz gar nicht so schlecht.

Sicher ist, dass Merkel

während der Flüchtling­skrise nicht immer Herrin des Verfahrens war Wer Merkel aus der Nähe kennt, weiß um ihre Geradlinig­keit in Fragen, die für sie

essenziell sind

Robin Alexander: Die Getriebene­n. Merkel und die Flüchtling­spolitik: Report aus dem Innern der Macht. Siedler, 286 S., 19,99 Euro.

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Polizisten eskortiere­n am 20. Oktober 2015 Flüchtling­e in Wegscheid, in der Nähe von Passau, nachdem diese die deutsch-österreich­ische Grenze passiert haben.

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