Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch
„In meinem Heimatland fürchtet jeder seinen Nachbarn“
Viele Erdogan-Kritiker haben hierzulande aus Angst nicht an der Wahl teilgenommen. Dabei könnte es auf wenige Stimmen ankommen.
DÜSSELDORF Vor einem Monat erhielt Nazir Tekin ein Einschreiben, das ihn zum Terroristen machte. Ein türkisches Gericht hatte es an das Generalkonsulat in Tekins Wohnort in Nordrhein-Westfalen geschickt. Darin stand: Er, Tekin, gehöre der Fetö an, der „Fethullahistischen Terrororganisation“. Sein Haus in der Türkei sei vom Staat beschlagnahmt worden, sein türkisches Konto eingefroren. Tekin kennt die Lage in seinem Heimatland, er kennt auch die Nachrichten: Gülen-Anhänger wie er wurden ausspioniert, ihre Namen nach Ankara geschickt – von Imamen des Islamverbands Ditib und Spionen des türkischen Geheimdienstes. Deshalb möchte Tekin seinen wahren Namen auch nicht öffentlich preisgeben. Das tür- kische Konsulat betritt er nur ohne seinen Pass. „Ich bin mir sicher, dass sie ihn mir wegnehmen würden“, sagt Tekin. Am Referendum über die Verfassungsänderung in der Türkei hat er nicht teilgenommen. Er hätte wählen können, im Konsulat. Doch er wollte nicht.
Rund die Hälfte der 1,4 Millionen wahlberechtigten Türken haben in Deutschland über das von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan angestrebte Präsidialsystem abgestimmt. Die Mehrheit von ihnen wird mit „Evet“, also mit Ja abgestimmt haben. In Umfragen gibt es bisher keinen eindeutigen Hinweis auf den Wahlausgang. Es könnte auf wenige Stimmen ankommen. Womöglich auf jene der Auslandstürken, die fünf Prozent ausmachen.
Doch es besteht der Verdacht, dass viele Erdogan-Kritiker aus Furcht gar nicht erst zur Wahl gegangen sind. Vor allem Anhänger der Gülen-Bewegung blieben den Wahllokalen fern. Erdogan macht die Bewegung und ihr geistliches Oberhaupt, Fethullah Gülen, für den Putschversuch am 15. Juli 2016 verantwortlich. Viele bangen um ihre Familien. „Mein Bruder und ich haben mittlerweile meine Mutter aus der Türkei nach Deutschland geholt“, erzählt Tekin. „Gott sei Dank verlief das gut. Wäre sie noch in der Türkei, ich hätte große Angst um sie. In meinem Heimatland fürchtet derzeit jeder seinen Nachbarn.“
Hanife Tosun ist stellvertretende Vorsitzende des iKult-Vereins in Köln. Der Verein steht der GülenBewegung nahe. „Ich habe lange überlegt, ob ich wählen gehen soll“, sagt Tosun. „Ich habe meine Freunde gefragt, auch einen lokalen Poli- tiker. Alle rieten mir: Geh nicht wählen. Ich bin mir natürlich darüber im Klaren, dass man, gerade wenn es knapp wird, wählen gehen sollte. Doch letzten Endes habe ich es gelassen.“Tosun hat Bekannte, die jüngst bei einer Reise in die Türkei lange am Flughafen in Istanbul festgehalten wurden. Eine andere Freundin wurde gezwungen, mit ihrem türkischen Pass einzureisen. „Ihr deutscher wurde nicht akzeptiert“, sagt Tosun.
Den Einfluss der türkischen Regierung bekam auch Osman Esen zu spüren. Der Geschäftsführer des deutsch-türkischen Dialog-Schulzentrums in Köln, eines privaten Gymnasiums und einer Realschule, steht auf einer Denunzianten-Liste des türkischen Geheimdienstes. „Es war schon ein sehr bedrückendes Gefühl, als der Beamte von der Bundespolizei vor der Tür stand und mir seine Gefährdeten-Ansprache hielt. Vor allem für meine Frau und meine Mutter – sie lebt bei uns – war es ein Schock“, sagt Esen, der sich auch bei der Stiftung „Dialog und Bildung“engagiert, dem deutschen Ableger der Gülen-Bewegung. Seine Mutter habe ein paarmal versucht, ihn aufzuhalten, wenn er abends noch zu Vorträgen wegmusste, erzählt Esen: „Sie hatte Angst um mich.“
All jene Geschichten werden dazu geführt haben, dass einige ErdoganKritiker den Gang in die Konsulate nicht angetreten haben. Denn dort sitzen vermehrt AKP-Anhänger, also Getreue Erdogans. Mit den Islamverbänden Ditib und Milli Görüs oder der Union Europäisch-Türkischer Demokraten (UETD) hat die Ja-Kampagne zudem finanzstarke Unterstützer und sehr viele Mitglieder. Die Nein-Kampagne ist dagegen deutlich finanzschwächer.
Für Hanife Tosun spielt es derweil keine Rolle, wie die Wahl ausgeht: Das Chaos bleibe. „Ein Ja festigt Erdogans Macht, ein Nein führt meines Erachtens zu Unruhen – oder auch zum Bürgerkrieg.“