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Zukunft der Türkei: strategischer Partner oder isoliertes Land?
Rechtsanwalt, Solingen BERLIN Die EU und Deutschland müssen nach dem Referendum in der Türkei eine neue Grundlage für die Zusammenarbeit in militärischen, politischen und nachbarschaftlichen Fragen finden. Nato Die Türkei verfügt nach den USA über die zweitgrößte Armee innerhalb des Verteidigungsbündnisses. Damit ist das Land am Bosporus territorial und militärisch ein wichtiger Partner in der Nato. Seit jeher gilt die Türkei als Bollwerk, damit die Konflikte im Nahen und Mittleren Osten nicht direkt auf Eu- ropa übergreifen können. Aktuell nutzen die Alliierten den Luftstützpunkt Incirlik im Süden der Türkei, um von dort Angriffe gegen die Terrormiliz IS zu fliegen. Im Südosten des Landes steht zudem ein wichtiges Nato-Raketenabwehrradar. Auch die Türkei hat ein Interesse, ihre Mitgliedschaft aufrechtzuerhalten: Ohne die Nato-Zugehörigkeit wäre sie eine isolierte Mittelmacht. EU Dass die Türkei nach dem Ja zum Verfassungsreferendum kein Beitrittskandidat der EU mehr sein kann, leugnet in Brüssel eigentlich niemand. Noch wartet die EU ab, ob nicht der türkische Präsident über
Duisburg
Flüchtlingsabkommen, Kampf gegen den IS, Handel – die EU und die Türkei haben noch viele gemeinsame Interessen.
einen Stopp der Beitrittsverhandlungen abstimmen lässt und damit den offiziellen Schlussstrich zieht. Ein Ende der EU-Option wäre auch die Wiedereinführung der Todesstrafe in der Türkei. Der Fraktionschef der Konservativen im Europäischen Parlament, Manfred Weber (CSU), fordert eine neue Beziehung zur Türkei: „Wir haben ein Interesse an einer stabilen Türkei, weil beide Seite enge Partner in einer ganzen Reihe an Bereichen bleiben. Deshalb sollten wir auf die Türkei bald mit Vorschlägen für neue Kooperationen zugehen, wie im Kulturbereich, im Anti-Terrorkampf oder im Wirtschaftsbereich, anstatt am quä- lenden und aussichtslosen Beitrittsprozess festzuhalten.“ Flüchtlingsabkommen Der Deal, dass die Türkei ihre MittelmeerGrenzen besser sichert und im Gegenzug Milliarden-Summen der EU für die Versorgung der Flüchtlinge erhält, scheint derzeit der stabilste Faktor in den europäisch-türkischen Beziehungen zu sein. Beide Seiten haben Interesse daran, dass das Abkommen auch unter den verschlechterten Beziehungen bestehen bleibt. Dafür, dass die Türkei Flüchtlinge davon abhält, auf die griechischen Inseln überzusetzen, erhält sie bis Ende 2018 insgesamt sechs Milliarden Euro für die Versorgung der Menschen. EU-Finanzhilfen Die Europäische Union zahlt an Beitrittskandidaten eine „Heranführungshilfe“. Im Fall der Türkei waren dies zwischen 2007 und 2013 insgesamt 4,8 Milliarden Euro. Geplant ist, dass bis 2020 weitere 4,45 Milliarden Euro fließen. Das Geld soll zur Stärkung von Demokratie, Zivilgesellschaft und Rechtsstaatlichkeit eingesetzt werden. Schon deutlich vor dem Referendum forderten Unionspolitiker angesichts der anti-rechtsstaatlichen Entwicklung in der Türkei, die Zahlungen einzustellen. Die EU- Kommission wird die Mittel auf den Prüfstand stellen müssen. Wirtschaftliche Zusammenarbeit Ökonomisch ist die Türkei auf die EU angewiesen. Etwa die Hälfte der Exporte der Türkei gehen in Länder der EU. Umgekehrt kommen rund 60 Prozent der Investitionen in der Türkei aus der EU. Dieter Kempf, Chef des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI), fordert: „Die Wirtschaft braucht Verlässlichkeit und Berechenbarkeit.“Er verweist darauf, dass 6800 deutsche Unternehmen in der Türkei aktiv seien. Das bilaterale Handelsvolumen liege bei 37 Milliarden Euro.