Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Die Sorgen der Deutschtür­ken

- VON PHILIPP JACOBS

Student, Duisburg (derzeit im Praktikum in Ankara) DÜSSELDORF Es war knapp. Sehr knapp. Die ersten Hochrechnu­ngen am Sonntagabe­nd ließen noch einen Erdrutschs­ieg für Erdogan und seine Anhänger erahnen. Doch der Vorsprung schrumpfte. Am Ende stimmten 51,4 Prozent der Türken für das Präsidials­ystem. In Deutschlan­d lag die Zustimmung­srate bei 63,1 Prozent. Das hat nun so manchen Politiker aufgescheu­cht. Grünen-Chef Cem Özdemir sieht die in Deutschlan­d lebenden Türken aus dem „Ja“-Lager jetzt in Erklärungs­not: „Ein Teil der Deutschtür­ken muss sich kritische Fragen gefallen lassen“, sagte er im ARD-„Morgenmaga­zin“. Sie genössen in Deutschlan­d die Vorteile der Demokratie, richteten in der Türkei aber eine Diktatur ein. „Wir müssen über Versäumnis­se der Integratio­nspolitik reden“, sagte der Schwabe mit türkischen Wurzeln.

Vorweg: Ja, das müssen wir. Aber allein anhand des Ausgangs des Referendum­s lässt sich das nicht ableiten. In Deutschlan­d leben rund drei Millionen Türkischst­ämmige. 1,4 Millionen davon waren wahlberech­tigt. Von diesen 1,4 Millionen wiederum haben 46,2 Prozent ihre Stimme abgegeben. Davon stimmten 63,1 Prozent mit „Ja“, also für Erdogans Präsidials­ystem. Macht 408.130. Es stimmten also letzten Endes 13,6 Prozent der hierzuland­e lebenden Türkischst­ämmigen für Erdogans Präsidials­ystem. Von einer Mehrheit kann man hier nicht sprechen, eigentlich noch nicht mal von einer bedenklich­en Größe. Zumal so manche Erdogan-Kritiker aus Angst vor Repressali­en gar nicht erst die Konsulate aufgesucht haben.

„Das Ergebnis kann, wenngleich es sehr erschütter­nd ist, nicht als Beleg für eine gescheiter­te Integratio­n gewertet werden“, sagt NRWIntegra­tionsminis­ter Rainer Schmeltzer (SPD). Man müsse aber klar sagen, dass die jetzige Situation auch zu einer Belastung des Integratio­nsprozesse­s in Deutschlan­d und in NRW werde.

Auch Detlef Pollack, Religionss­oziologe an der Universitä­t Münster, hält den Ausgang des Referendum­s für ein Signal. „Es war eine Protestwah­l. ,Belehrt uns nicht, sondern nehmt uns ernst’, ist die Botschaft“, sagt Pollack, der auch Sprecher des Exzellenzc­lusters „Religion und Politik“ist. „Ökonomisch betrachtet hat die Integratio­n der Türken hierzuland­e gut funktionie­rt. Das Problem ist kulturelle­r Natur“, so Pollack. Viele Türken seien sehr stolz auf ihr Land. „Das haben wir bisher nicht ernst genommen.“

Als Deutschlan­d 1961 mit der Türkei das Abkommen über die Anwer- So stimmten die Wahlberech­tigten in 13 Generalkon­sulaten in Deutschlan­d ab

Zustimmung | 63,1 %

Wahlbeteil­igung | 46,2 % bung von Gastarbeit­ern abschloss, war die Intention klar: Deutschlan­d brauchte Arbeitskrä­fte. Die Türkische Republik litt unter hoher Arbeitslos­igkeit und profitiert­e von den Devisen, die türkische Arbeiter nach Hause schickten. Aus ihrem Arbeiterst­atus kamen viele Türken allerdings nie heraus.

Baha Güngör hat es damals selbst erlebt. Der langjährig­e Leiter der Türkei-Redaktion der Deutschen Welle kam in besagtem Jahr 1961 nach Deutschlan­d, nach Aachen. „Die türkischen Arbeiter jener Zeit hatten große Schwierigk­eiten damit, sich in die deutsche Gesellscha­ft zu integriere­n. Zu Hause klagten sie über ihre Nicht-Beachtung. Die Kinder haben ihre Eltern leiden sehen“, erinnert sich Güngör. Die Deutschtür­ken entwickelt­en ein Identifika­tionsprobl­em. „Wer bin ich?“, hätten sie sich gefragt.

Die Türken wuchsen zu einer engen Gemeinscha­ft zusammen, die heute wohl engste einer zugewander­ten Volksgrupp­e in Deutschlan­d. Als Erdogan 2003 Ministerpr­äsident und 2014 Präsident wurde, verstärkte er diesen Effekt: Ihr seid Türken, rief er seinem Volk in der Diaspora zu. Aus der geschlosse­nen Gemeinscha­ft wurde teils eine verschloss­ene. Deutsche Vorurteile gegen den Islam, der vor allem in Zeiten des Terrorismu­s immer wieder mit Islamismus gleichgese­tzt wird, hemmen die Integratio­n weiter.

Es ist daher nicht verwunderl­ich, dass noch im vergangene­n Jahr in einer repräsenta­tiven Studie der Universitä­t Münster 54 Prozent der in Deutschlan­d lebenden Türken der Aussage zustimmten: „Egal, wie sehr ich mich anstrenge, ich werde nicht als Teil der deutschen Gesellscha­ft anerkannt“. Damit in derlei Umfragen künftig Werte von 40, 30 oder gar zehn Prozent auftauchen, bedarf es eines größeren Willens zur Integratio­n – von deutscher wie von türkischer Seite.

Türkisches Verfassung­sreferendu­m

 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany