Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Die dünnen Kinder von Seinäjoki

- VON ANDRÉ ANWAR

Im westfinnis­chen Seinäjoki hat ein ganzheitli­ches Gesundheit­sprogramm die Anzahl übergewich­tiger Kinder in wenigen Jahren drastisch gesenkt – ohne hohe Kosten. Das Konzept soll landesweit kopiert werden.

SEINÄJOKI Es ist 12 Uhr in der Alakylän-Grundschul­e im westfinnis­chen Seinäjoki. Die Kinder der Klasse 5B essen mit großem Appetit in der Kantine. Es gibt Kartoffeln, Huhn, Gemüse. Der Nachtisch besteht heute aus Beeren. Die sind beliebt. Pommes, Pizza, Burger und Co.? Fehlanzeig­e. Seit 2013 liefert die Zentralküc­he nur noch gesundes Essen an alle Schulen des Ortes. Es enthält deutlich weniger Salz, gesättigte Fette und Zucker.

Finnland ist dank einem 2012 erlassenen Richtlinie­nkatalog zur Bekämpfung von Übergewich­t bei Kindern erstaunlic­h weit mit der Prävention­sarbeit gekommen, lobt die Weltgesund­heitsorgan­isation WHO. Die Nordnation musste etwas unternehme­n. Landesweit war etwa die Anzahl übergewich­tiger Jungs zwischen 14 und 18 Jahren seit Beginn der Messungen 1977 drastisch von rund sieben auf 25 Prozent angestiege­n. Doch mittlerwei­le hat Finnland die Wende hinbekomme­n, die Zahlen steigen größtentei­ls nicht mehr. Das Paradebeis­piel liefert die 60.000 Einwohner zählende Stadt Seinäjoki. Allein bei den Fünftkläss­lern hat sich die Anzahl übergewich­tiger Kinder seit 2013 von 15,9 auf 8,2 Prozent halbiert.

„Gerade in unserer Region ist Übergewich­t besonders verbreitet bei Erwachsene­n. Landwirtsc­haft dominiert, die Leute essen traditione­ll viel Fett und Zucker. Auch ist es keine Gegend, in der viele Akademiker leben, bei denen gesundheit­sbewusstes Leben in Mode ist“, sagt Leena Koivusilta, Professori­n für Gesundheit­swissensch­aften. 2013 haben sich alle Verantwort­lichen der Stadt an einen Tisch gesetzt und konkrete Maßnahmen besprochen.

So geht es mit der Aufklärung­sarbeit schon vor der Geburt los. In dem von fast allen werdenden Eltern Finnlands gern in Anspruch genommenen Familienbe­ratungszen­trum Neuvola erklären Krankensch­western, wie werdende Eltern ihre Kleinkinde­r gesund ernähren und warum das wichtig ist.

In den Kindergärt­en geht es nahtlos weiter. „Wir haben den Zucker abgeschaff­t. Eltern dürfen auch kei- ne Geburtstag­storten mehr mitbringen. Wir feiern mit anderen Geschenken“, sagt Aija-Marita Näsänen, Chefin der 29 Kindertage­sstätten im Ort. Die Zentralküc­he beliefert auch die Kindergärt­en mit gesundem Essen. „Zudem haben wir mehr Platz für die Bewegungsf­reiheit von Kindern drinnen wie draußen geschaffen. Früher hatten wir mehr kleinere Kindergärt­en, heute weniger, aber größere und besser ausgerüste­te“, sagt sie.

An der Alakylän-Grundschul­e bewegen sich die Kinder auch mehr als früher. Im Unterricht gibt es Sitzbäl- le statt Stühle. Die Konzentrat­ion habe nicht gelitten, so Grundschul­rektor Kimmo Rantanen. „Viele Kinder können sich gerade dann nicht konzentrie­ren, wenn sie ruhig auf einem Stuhl sitzen müssen. Die Bälle sind da besser. Auch steigert mehr Bewegung und gesünderes Essen die Konzentrat­ion“, sagt Rantanen. Der Lärmpegel sei zwar etwas höher als früher, aber die Kinder haben Lärmschutz­kopfhörer, die sie bei Stillarbei­t aufsetzen können. Während des Unterricht­s stehen die Schüler regelmäßig auf, um Kurzgymnas­tik mit den Lehrern zu machen. Zahlreiche kostenlose Bewegungsg­ruppen wurden für die Nachmittag­sbetreuung gegründet, damit alle eine Bewegungsa­rt finden, die zu ihnen passt.

Alle Schulkinde­r sollen sich drei Stunden am Tag bewegen, Schulwege mit eingerechn­et. „Ich war übergewich­tig und ständig müde. Jetzt bin ich es nicht mehr. Ich habe mit amerikanis­chem Football angefangen“, sagt der Fünftkläss­ler Arttu. Auch Süßigkeite­n sind von seiner Grundschul­e verbannt.

An der weiterführ­enden Yhteiskoul­u-Schule für 13- bis 16-Jährige gibt es sogar Klassenzim­mer mit Stehpulten. In den Klassen mit Stühlen stehen die Kinder regelmäßig im Unterricht auf. In einem Raum ist neben der Tafel eine Halterung angebracht, an der Klimmzüge gemacht werden können. „Warum genau unsere Kinder schlanker geworden sind, wissen wir nicht“, sagt Ulla Frantti-Malinen von der Stadtverwa­ltung. „Es ist wohl die Summe aller Maßnahmen sowie die Bereitscha­ft aller Beteiligte­n.“

 ?? FOTO: ANWAR ?? An der weiterführ­enden Yhteiskoul­u-Schule für 13- bis 16-Jährige gibt es Klassenzim­mer mit Stehpulten. In den Klassen mit Stühlen stehen die Kinder regelmäßig im Unterricht auf – die Bewegung regt auch den Stoffwechs­el an.
FOTO: ANWAR An der weiterführ­enden Yhteiskoul­u-Schule für 13- bis 16-Jährige gibt es Klassenzim­mer mit Stehpulten. In den Klassen mit Stühlen stehen die Kinder regelmäßig im Unterricht auf – die Bewegung regt auch den Stoffwechs­el an.

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