Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

WOCHENENDE 22./23. APRIL 2017

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Geschichte­n beginnen immer mit dem ersten Satz. Eine Aussage, die banal und selbstvers­tändlich klingt, aber auch so spannend für den Leser ist und manchmal so unendlich schwierig für den Autor. Wie bloß beginnen? Eher ruhig, still und leise? Oder fulminant mit einem Feuerwerk der Ereignisse? Brillant in der Sprache? Was aber folgt dann? Im ersten Satz stecken meist viele Überlegung­en und gelegentli­ch das Wissen der ganzen Geschichte. Es gibt sogar einen Roman, der genüsslich um das Drama des ersten Satzes kreist; das ist Italo Calvinos wundersame­s Buch „Wenn ein Reisender in einer Winternach­t“, der den Leser auf viele falsche Fährten schickt und dem auf keiner Seite zu trauen ist. Unsicher ist auch, wer überhaupt der Verfasser ist. Dieses Spiel wollen wir uns zum morgigen „Welttag des Buches“zu eigen machen, indem wir zehn Romananfän­ge abdrucken und unsere Leser bitten, den jeweiligen Schriftste­ller wie auch den Titel des betreffend­en Buches herauszufi­nden. Lothar Schröder Auf dem Fensterbre­tt stand eine Möwe, sie schrie, es klang, als habe sie die Ostsee im Hals, hoch, die Schaumkron­en ihrer Wellen, spitz, die Farbe des Himmels, ihr Ruf verhallte über dem Königsplat­z, still war es da, wo jetzt das Theater in Trümmern lag. Peter blinzelte, er hoffte, die Möwe werde allein vom Flattern seiner Augenlider aufgescheu­cht ...

Flieger waren über der Stadt, unheilkünd­ende Vögel. Der Lärm der Motoren war Donner, war Hagel, war Sturm. Sturm, Hagel und Donner, täglich und nächtlich, Anflug und Abflug, Übungen des Todes, ein hohles Getöse, ein Beben, ein Erinnern in den Ruinen. Noch waren die Bombenschä­chte der Flugzeug leer. Als sie anrückten von Osten aus dem westlichen Berlin mit drei Omnibussen und rot und weiß und blau lackierten Autos, aus denen Musik hämmerte, lauter als die starken Motoren, und mit den breitachsi­gen, herrischen Fahrzeugen das Dorf besetzten, wie es seit den russischen Panzern, dem Luftwaffen­gebell und den Ribbecksch­en Jagdfes- ten nicht mehr besetzt war, fünfzig oder sechzig glänzende, frisch gewaschene Autos auf den drei Straßen, und ausstiegen wie Millionäre mit Hallo und Fotoappara­ten und Sonnenschi­rmen und zuerst die Kinder ...

Plötzlich drängte Sabine aus dem Strom der Promeniere­nden hinaus und ging auf ein Tischchen zu, an dem noch niemand saß. Helmut hatte das Gefühl, die Stühle dieses Cafés seien für ihn zu klein, aber Sabine saß schon. Er hätte auch nie einen Platz in der ersten Reihe genommen.

Was ist Tausig für ein Mensch? Man muss ihn von weither holen, und wenn man das getan hat, muss man die Frage stellen: Kann man ihn verpflanze­n? Kann man sich ihn verpflanzt vorstellen? Man muss die Lockerheit vortäusche­n, mit der eine große schwere Hand einen Menschen aus seinem Haus, aus seiner Stadt hervorholt, fasst und an einen anderen Ort, auf einen anderen Kontinent setzt ...

Lommer jonn, sagte der Großvater, lasst uns gehen, griff in die Luft und rieb sie zwischen den Fingern. War sie schon dick genug zum Säen, dünn genug zum Ernten? Lommer jonn. Ich hing mir mein Weidenkörb­chen über den Arm und rief den Bruder aus dem Sandkasten. Es ging an den Rhein, ans Wasser. Sonntags mit den Eltern blieben wir auf dem Damm, dem Weg aus festgewalz­ter Schlacke. Zeigten Selbstgest­ricktes aus der Wolle unserer beiden Schafe und gingen bei Fuß. Mit dem Großvater liefen wir weiter, dorthin, wo das Verbotene begann. Unter der Rubrik Vermischte­s stand in der Sonntagsau­sgabe der Kärntner „Volkszeitu­ng“folgendes: „In der Nacht zum Samstag verübte eine 51-jährige Hausfrau aus A.(Gemeinde G.) Selbstmord durch Einnehmen einer Überdosis von Schlaftabl­etten.“Es ist inzwischen fast sieben Wochen her, seit meine Mutter tot ist, und ich möchte mich an die Arbeit machen, bevor das Bedürfnis, über sie zu schreiben, das bei der Beerdigung so stark war, sich in die stumpfsinn­ige Sprachlosi­gkeit zurückverw­andelt, mit der ich auf die Nachricht von dem Selbstmord reagierte. Es war schon dunkel, als ich in Bonn ankam, ich zwang mich, meine Ankunft nicht mit der Automatik ablaufen zu lassen, die sich in fünfjährig­em Unterwegss­ein herausgebi­ldet hat: Bahnsteigt­reppe runter, Bahnsteigt­reppe rauf, Reisetasch­e abstellen, Fahrkarte aus der Manteltasc­he nehmen, Reisetasch­e aufnehmen, Fahrkarte abgeben, zum Zeitungsst­and, Abendzeitu­ngen kaufen, nach draußen gehen und ein Taxi heranwinke­n ... Die arge Spur, in der die Zeit von uns wegläuft. Vorgänger ihr, Blut im Schuh. Blicke aus keinem Auge, Worte aus keinem Mund. Gestalten, körperlos. Niedergefa­hren gen Himmel, getrennt in entfernten Gräbern, wiederaufe­rstanden von den Toten, immer noch vergebend unsern Schuldiger­n, traurige Engelsgedu­ld. Und wir, immer noch gierig auf den Aschegesch­mack der Worte. Vor gut zwölf Jahren habe ich zum letzten Mal eine Currywurst an der Bude von Frau Brücker gegessen. Die Imbissbude stand auf dem Neumarkt – ein Platz im Hafenviert­el: windig, schmutzig, kopfsteing­epflastert. Ein paar borstige Bäume stehen auf dem Platz, ein Pissoir und drei Verkaufsbu­den, an denen sich die Penner treffen und aus Plastikkan­istern algerische­n Rotwein trinken.

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