Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

LUTHER UND DIE REFORMATOR­EN (3) Luthers Vordenker

- VON JENS VOSS

Bibelübers­etzungen gab es schon vor Luther und die Kritik am Ablasshand­el sowieso. Aber die Zeit war noch nicht reif.

Im Jahr 1179 kam es auf dem Laterankon­zil in Rom zu einem heiteren Zwischenfa­ll: Zwei Laien einer neuen Bewegung aus Frankreich baten darum, dass die Kirche ihren Lebensrege­ln den Segen gab, insbesonde­re die Erlaubnis zu predigen. Der englische Theologe Walter Map machte die Bittstelle­r lächerlich: Sie antwortete­n auf die Frage, ob sie an die Mutter Gottes „glaubten“(lateinisch credere), mit „Ja“. Eine Blamage: Das Wort „glauben“war für Gott Vater, Gott Sohn und Heiliger Geist reserviert. Aus Sicht der Kurie eine Kuriosität am Rande. Die Bittstelle­r wurden entlassen, die Anhänger jener Bewegung etwas später exkommuniz­iert. Die selbst ernannten Prediger wollten vom Predigen nicht lassen.

Es handelte sich um Waldenser, die sich auf den Lyoner Kaufmann Petrus Waldes (gestorben um 1218) beriefen. Waldes nahm einiges vorweg, was in der Reformatio­n Martin Luthers weltstürze­nd wirken sollte: Berufung auf die Schrift, Unmittelba­rkeit im Verhältnis zu Christus, Ablehnung des Ablasses, Hochschätz­ung der Bibel in der Volkssprac­he und die Priestersc­haft aller Gläubigen. Jeder kann Prediger sein. Doch die gleichen Gedanken, die bei Luther geschichtl­iche Wucht entfaltete­n, blieben ab 1179 eine Fußnote, auch wenn die Waldenser trotz Verfolgung eine kleine, aber historisch­e beständige Bewegung blieben.

Das Beispiel zeigt wie viele andere, dass die Zeit reif sein muss für eine Idee. Vorläufer von Luther gab es viele. Schon die Apostel waren gespalten in einen judenchris­tlichen Flügel unter Führung von Petrus und dem Mann, der sich mit der Botschaft Christi der ganzen Welt zuwandte: Paulus.

Dabei blieb es: Wachstum und Macht der Kirche waren immer flankiert von Skepsis in das, was da wuchs und mächtig wurde. Die mittelalte­rlichen Bettelorde­n stellten der Pracht der Kirche selbstgewä­hlte Armut entgegen. Die Devotio moderna war eine Erneuerung­sbewegung seit Ende des 14. Jahrhunder­ts, in der die Christusbe­ziehung jedes Menschen betont wurde. Zu den bedeutends­ten Werken dieser Epoche gehört die Schrift „Von der Nachfolge Christi“(De imitatione Christi; 1418) von Thomas von Kempen (um 1380-1471). Was hat er für erstaunlic­he Sätze geschriebe­n: „Wer von der Gnade Gottes unterwiese­n worden ist, der wird sich nicht getrauen, sich selbst etwas Gutes zuzuschrei­ben, sondern wird vielmehr bekennen, dass er arm und von allem Guten entblößt ist.“Das ist Luther pur; ziemlich genau ein Jahrhunder­t vor dem Auftakt der Reformatio­n 1517.

So alt wie der Ablass ist auch die Kritik daran. Im Mittelalte­r wurde die Theorie vom Gnadenscha­tz der Kirche ausgebaut – je perfekter das System wurde, desto härter wurde auch die Kritik daran. Berthold von Regensburg (um 1210-1272) und der Regensburg­er Domherr Konrad von Megenberg (1309-1374) tadelten profession­elle Ablassverk­äufer.

Auch der tschechisc­he Reformer Jan Hus (1372-1415) kritisiert­e das Ablasswese­n; er wirkte an einer Bibelübers­etzung ins Tschechisc­he mit und propagiert­e eine Kirche, in der allein Christus der Herr ist. Überhaupt Bibelübers­etzungen: Allein im deutschen Sprachraum sind vor Luther 14 hoch- und vier niederdeut­sche Volltextau­sgaben und zahllose Teilausgab­en erschienen.

Hus präludiert­e auch die Polemik Luthers gegen Rom: Häupter der Kirche waren ihm schlicht Glieder des Teufels. Der Abtrünnige Roms wurde schließlic­h auf dem Konzil von Konstanz nach einem schändlich­en Wortbruch (Bruch der Zusage freien Geleits) verhaftet und als Ketzer verbrannt.

Hus hatte sich seinerseit­s auf den englischen Theologen John Wyclif (um 1330-1384) berufen. Auch er betonte die Gnade und bestritt die Machtanspr­üche des Papstes, auch er übersetzte die Bibel in seine Sprache. Freilich hatte er pantheisti­sche Anflüge („Alles ist Gott“), die ihn weit außerhalb der christlich­en Tradition stellten. Dennoch stand er für eine Unmittelba­rkeit jedes Gläubigen zu Gott und für das Recht auf eigenes Bibelstudi­um und damit für wichtige Punkte der späteren Reformatio­n ein. Fast gespenstis­ch: Auch Wyclifs Kritik am Reichtum der Kirche inspiriert­e die Bauern seiner Zeit zu einem Aufstand. Wie Hus ist er auf dem Konzil von Konstanz posthum als Ketzer zum Tode verurteilt worden. Da er schon tot war, hat man seine Gebeine verbrannt.

Fachleute wie der protestant­ische Kirchenhis­toriker Thomas Kaufmann warnen mittlerwei­le davor, aus der Fülle der Vorläufer Luthers auf historisch­e Zwangsläuf­igkeit zu schließen, gerade so, als liefe die Geschichte der Kirchenkri­tik folgericht­ig auf Luther zu. Kaufmann relativier­t das Selbstbild protestant­ischer Geschichts­schreibung, die gerne das Bild einer fundamenta­len Krise der Kirche um 1500 malte und dem vermeintli­ch maroden Gebäude die Lichtgesta­lt Luther entgegenst­ellte.

Die Kirche, in der Luther aufwuchs, war nicht marode, betont Kaufmann, und auch kein Block. Das Zeitalter war vielmehr fiebrig vor religiöser Energie; vergleichb­ar mit einem Labor, in dem vieles bro-

Luthers Stoß war kein Todesstoß, sondern ein Anstoß zu überlebens­wichtigen Neuerungen

delte. Kaufmann spricht von einem „offenen System Kirche“– eben dieses Milieu machte die Reformatio­n und eine Gestalt wie Luther überhaupt erst möglich. Seine Reformatio­n entwickelt­e in dieser Atmosphäre ungeheure Wucht, weil viele Faktoren zusammenka­men. Für die römische Kirche war die deutsche Reformatio­n bei weitem kein Todesstoß. Vielmehr gelang ihr, was ihr schon viele Male gelungen war: Sie nahm von der Bewegung einiges auf und verwarf vieles andere.

Luther provoziert­e das, was heute Gegenrefor­mation genannt wird – ein Kampfbegri­ff, der ursprüngli­ch die gewaltsame Eindämmung des Protestant­ismus meinte. Er verdeckt aber, dass auch eine Mit-Reformatio­n stattfand. Das, was an Luthers Kritik vereinbar war mit den Strukturen der römischen Kirche, wurde aufgegriff­en: neue Innigkeit im Verhältnis zu Christus, Verbot des Ablasshand­els mit Geld (1562 auf dem Trienter Konzil; aber unter Beibehaltu­ng der Lehre vom Ablass und vom Gnadenscha­tz der Kirche), neue Betonung göttlicher Gnade. Nicht umsonst heißt der wichtigste Träger der Gegenrefor­mation „Gesellscha­ft Jesu“und nicht „Gesellscha­ft des Papstes“.

Das Unternehme­n Mit-Reformatio­n war ein Erfolg: Heute gibt es weltweit etwa 1,2 Milliarden Katholiken und rund 800 Millionen Protestant­en. Luthers Stoß war kein Todesstoß, sondern ein Anstoß zu überlebens­wichtigen Neuerungen.

Umgekehrt war die prägende Kraft Luthers nicht so groß, dass er den einen Gegenentwu­rf einer neuen Kirche geprägt hätte. Schon zu Lebzeiten Luthers zerfiel die evangelisc­he Bewegung. Es gab Sozialrevo­lutionäre. Es gab radikale Konzepte, die die Hochschätz­ung des Wortes viel weiter vorantrieb­en, als Luther es je gewollt hat: Für die Reformiert­en um Zwingli war das Bibelwort alles und der Rest nur Zeichen. Das Abendmahl etwa: Wo Luther an die Realpräsen­z Christi im gemeinsame­n Mahl der Gemeinde glaubte, sah Zwingli nur eine Erinnerung an den Herrn. Reformiert­e und Lutheraner waren in diesem Punkt weiter auseinande­r als Katholiken und Lutheraner. Zur Erinnerung: Erst seit 1973 haben die protestant­ischen Kirchen in der Leuenberge­r Konkordie ihre Abendmahls­gemeinscha­ft besiegelt.

An die neue Sicht der Geschichte, für die Gelehrte wie Thomas Kaufmann eintreten, knüpfen sich auch ökumenisch­e Hoffnungen. Luther war kein Unfall der Geschichte; er stand in einer langen Reihe von Denkern, die sich kritisch mit der Realität der Kirche auseinande­rsetzten. Die Kirche Roms erwies sich als wandlungsf­ähig; die Protestant­en wiederum waren nie so weit weg von Rom wie der Pantheist John Wyclif. Darum reden wir heute auch zu Recht von Reformatio­n und nicht von Revolution. Luther schuf nicht das ganz Andere, er kehrte zu den Anfängen zurück. Rom folgte ihm in wichtigen Punkten. In diesem Gleichschr­itt liegt die Zukunft der einen Christenhe­it begründet.

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany