Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Schon mal Blei gegessen?

- VON MARTINA KATZ

Auf dem abgeschied­enen Lieper Winkel ist Usedom noch ganz ursprüngli­ch – eine tolle Möglichkei­t, die bekannte Insel einmal anders zu erleben.

Bernd Reschke schiebt eine Lage Lachsforel­len in den Räucherofe­n. „Wir arbeiten hier noch traditione­ll über dem offenen Feuer“, erzählt der studierte Fischereib­iologe im kleinen Rankwitzer Hafen in Mecklenbur­g-Vorpommern. „Nur so können die Inhaltssto­ffe des Holzes direkt auf den Fisch übergehen. Das gibt einen intensiv rauchigen Geschmack und dunkles Fleisch. Fast so wie Schokolade.“Reschke lacht und hängt die nächsten Lachsforel­len in das Räuchergit­ter.

Im Hafen von Rankwitz auf der Usedomer Halbinsel Lieper Winkel ist Reschkes traditione­lle Fischräuch­erei ein beliebtes Ziel von Einheimisc­hen und Urlaubern. Hier im Achterland, im grünen Hinterland der modernen Kaiserbäde­r Bansin, Heringsdor­f und Ahlbeck, wo nur eine Straße durch die Landschaft führt und die Hand voll Dörfer mit ihren 600 Einwohnern seit jeher über Steinbohle­n miteinande­r verbunden sind, kommt noch Fisch aus dem Achterwass­er auf den Tisch. Die süße Lagune, die den Lieper Winkel zusammen mit dem Peenestrom umschlingt, ist so flach, dass sich ihr Wasser im Sommer auf 20 Grad erwärmt. Was gut für Segler und Surfer ist, macht den Fischern zu schaffen. „Früher wurde hier sehr viel Aal gefangen“, weiß Reschke. „Davon konnten die Familien vom Lieper Winkel ganz gut leben. Jetzt bleibt der Aal aber weg. Die wenigen Berufsfisc­her, die es hier heute gibt, nehmen deshalb auch Zander und Schnäpel mit.“

Schon vor mehr als 400 Jahren war das ehemalige Waldund Sumpfgebie­t Lieper Winkel ein bekanntes Fischerdom­izil. Damals konnten die Männer ihre kleinen Orte nur per Boot erreichen. Die einzige Straße entstand erst Ende des 19. Jahrhunder­ts. Bis dahin sah man sie in den traditione­llen weißen Leinenhose­n, bunten Westen und farbigen Strumpfbän­dern über die Felder und das Wasser ziehen. Nirgendwo auf Usedom war das Tragen einer Tracht so lange üblich wie auf der abgelegene­n Halbinsel.

Heute findet man hier Ruhe und Idylle. Ein Paradies für Urlauber, die in der Abgeschied­enheit eine Auszeit von den quirligen Kaiserbäde­rn suchen. Auf den weitläufig­en Wiesen dösen LimousinKü­he. Am Wegesrand stehen Marmeladen­Variatione­n zum Verkauf. Ein handbemalt­es Holzschild weist den Weg zum einzigen Lebensmitt­elmarkt. Ab und zu lugt ein weißes Segelboot durch die endlos goldene Uferwand aus Schilfröhr­icht, ruft ein Seeadler von einer Esche.

In Liepe, dem Ort, der der Halbinsel ihren Namen gab, sprenkeln hübsche Reetdachhä­user mit weißen und himmelblau­en Fassaden die Halb-

Ein Paradies für Urlauber, die in der Abgeschie

denheit eine Auszeit suchen

insel und den Ort um die St. Johannes Kirche. Der rote Backsteinb­au mit dem ebenerdige­n Glockenstu­hl ist Liepes ganzer Stolz, vor 800 Jahren erstmals erwähnt und damit das älteste Gotteshaus auf Usedom. An der Westküste in Quilitz, wo bunte Finnhäuser unter schattigen Kiefern Ruhe suchende Urlauber locken, fand man noch ältere Schätze. 1914 stieß ein Bauer bei Grabungsar­beiten auf mehr als 2000 Silbermünz­en. Dazu Goldperlen, silberne Ketten, Ohrringe, Arm- reifen. Ein Schatz, den die Slawen 900 Jahre zuvor vergruben, als sie von hier aus Handel mit England und den Niederland­en über den Peenestrom trieben. Ob sie ihre Heimat Lipa nannten (zu Deutsch Lindenort), weil es hier Linden gab oder zumindest eine Dorflinde als zentralen Treffpunkt oder um dem Ort eine heilige Bedeutung zu geben – für die Slawen waren Linden heilige Bäume –, bleibt ungewiss. Doch wer ein Dorf weiter in Warthe zum Sonnenunte­rgang am Naturstran­d sitzt, die Kormorane beobachtet, wie sie auf einem halb versunkene­n Schiffswra­ck spielen, wird der Atmosphäre dieses Ortes sicher etwas Göttliches abgewinnen.

Im Rankwitzer Hafen holt Bernd Reschke derweil seine Lachsforel­len aus dem Räucherofe­n. „Haben Sie schon mal Blei gegessen?“, fragt er eine Kundin. Der Karpfenfis­ch mit dem Perlmuttgl­anz fühlt sich im Achterwass­er wohl. Nur beliebt ist er nicht. „Wenn wir mal Blei anbieten, dann liegt der hier so wie er heißt: wie Blei“, sagt Reschke. Nur die Einheimisc­hen wissen ihn zu schätzen, genießen ihn geräuchert oder legen ihn in Biersoße ein, damit sich die kleinen Gräten auflösen. „Vielleicht kommen die Urlauber ja irgendwann auch auf den Geschmack.“Reschke klingt zuversicht­lich. Die Redaktion wurde von Wikinger Reisen zu der Reise eingeladen.

 ?? FOTO: DIRK BLEYER ?? Das Achterland, zu dem auch der Lieper Winkel gehört, fasziniert mit unberührte­r Natur, sattgrünen Wäldern, zahlreiche­n Seen und einer zeitlosen Schönheit fernab des touristisc­hen Lebens an der Ostseeküst­e.
FOTO: DIRK BLEYER Das Achterland, zu dem auch der Lieper Winkel gehört, fasziniert mit unberührte­r Natur, sattgrünen Wäldern, zahlreiche­n Seen und einer zeitlosen Schönheit fernab des touristisc­hen Lebens an der Ostseeküst­e.

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