Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

In der Abwärtsspi­rale

- VON JULIA RATHCKE

Angelika Zohlen ist Ende 50, alleinerzi­ehende Mutter, promoviert­e Biologin – und seit mehr als zehn Jahren arbeitslos.

MÖNCHENGLA­DBACH Dutzende Ordner füllen das Wandregal in dem winzigen Schlafzimm­er bis an die Decke. Die Beschriftu­ng kaum noch lesbar, auf Englisch, Schwedisch, Deutsch und Spanisch. Grün: Versicheru­ngen. Rot: für die Kinder. Gelb und blau: Forschungs­unterlagen aus Schweden. „Die wollte ich längst entsorgen“, sagt die promoviert­e Biologin Angelika Zohlen. Gebraucht hat sie diese Papiere nie, hat nie wirklich in ihrem Beruf gearbeitet. Aber sein Lebenswerk, das wirft man ja nicht einfach so weg.

Über Langzeitar­beitslose gibt es viele Klischees: schlechtes Elternhaus, falsche Freunde, haben nichts aus sich gemacht. Ungebildet, ungepflegt, faul. Selbst schuld. Angelika Zohlen hat Abitur, eine Ausbildung, ein Einser-Diplom und einen Doktor in Biologie; sie spricht Englisch, Schwedisch und Spanisch; ist in der Elternpfle­gschaft für ihre Kinder aktiv und hat ihren Haushalt im Griff. Sie ist 58 Jahre alt, ihr Lebenslauf samt Praktika, Fortbildun­gen füllt sechseinha­lb Seiten. Und doch liest man daraus genau einen Satz: Ins Berufslebe­n fand sie nie. Und das wird sich womöglich auch nicht mehr ändern. Wie kann das sein?

Auch wenn die Arbeitslos­enquote zuletzt auf den niedrigste­n Stand seit 25 Jahren gesunken ist, sind immer noch rund 2,7 Millionen Menschen in Deutschlan­d arbeitslos, jeder Dritte länger als ein Jahr. Jeder Fünfte ohne Abschluss ist arbeitslos; am geringsten ist die Quote mit unter drei Prozent bei Akademiker­n. 4,4 Millionen Deutsche waren 2016 laut Bundesagen­tur für Arbeit auf Hartz IV angewiesen. Arbeitslos­igkeit ist ein Massenschi­cksal, die Ursachen sind individuel­l.

Karl Sasserath, Leiter des Arbeitslos­enzentrums Mönchengla­dbach, berät seit mehr als 30 Jahren Menschen, die ihren Job verloren haben. Er kennt die Faktoren, die Arbeitslos­e immer weiter in die Abwärtsspi­ra- le treiben. „Entscheide­nd ist die Dauer“, sagt Sasserath, „je länger jemand arbeitslos ist, desto schwierige­r wird’s.“Oft spielen Kinder eine Rolle, Alleinerzi­ehende bilden einen Großteil der Arbeitslos­en. Mit zunehmende­m Alter nach der Erziehungs­zeit steige die Konkurrenz der Jüngeren. Es folge häufig die Sinnkrise: Habe ich noch Chancen? Habe ich das Richtige gelernt? Bin ich gut genug? „Hat man dann noch gesundheit­liche Probleme oder hohe Schulden, ist es fast unmöglich, da rauszukomm­en“, sagt Sasserath.

Ohne sie persönlich zu kennen, hat er damit Angelika Zohlens Lage ziemlich exakt erfasst. Weil ihr AbiSchnitt damals für ein Biologiest­u- dium nicht reicht, macht sie erst eine Ausbildung zur Medizinisc­hTechnisch­en Assistenti­n, arbeitet einige Jahre im Labor, verdient ganz gut – bis sie mit Ende zwanzig doch den Studienpla­tz bekommt. „Freunde meinten: Du bist doch verrückt“, sagt Zohlen, „aber Biologie war ja immer mein Traum.“Sie legt ein Einser-Diplom ab, Spezialgeb­iet Naturschut­z, forscht in Spanien und später in Schweden, wo sie vier Jahre an ihrer Promotion arbeitet. Mit 37 Jahren hat sie den Doktortite­l; ist inzwischen verheirate­t, bekommt zwei Kinder. Das Glück, denkt sie, könnte kaum größer sein.

Dann scheitert die Ehe, ihre Mutter erkrankt schwer, es geht zurück bezogen auf Erwerbsper­sonen in Deutschlan­d, bis 1990 früheres Bundesgebi­et

1975

2014: 19,9 % ohne Berufsabsc­hl. nach Deutschlan­d – ohne wirkliche Berufserfa­hrung, ohne Rücklagen, ohne Plan. Kita- und Jobsuche zehren an ihr und der Tod ihrer Mutter. Mal jobbt sie als Telefonist­in, mal fährt sie Essen aus. Als Biologin findet sie keine Stelle; die Jahre verstreich­en, die junge Konkurrenz wächst nach. Dann das Rheuma. Anderthalb Jahre fällt sie aus. Angekommen in der Abwärtsspi­rale.

Sasserath sagt: „Arbeitslos­igkeit hat einen Preis – die Gesundheit.“Zusammenhä­nge zwischen Dauerarbei­tslosigkei­t und Erkrankung­en seien erwiesen. Und die Zahl der Langzeiter­werbslosen steige weiter. 1982 gründete er das vom Land und der EU geförderte Arbeitslos­enzen- trum (ALZ) in Mönchengla­dbach – einer Stadt mit 270.000 Einwohnern, von denen rund 40.000 Hartz IV beziehen. Ratsuchend­e bekommen im ALZ schnelle, unkomplizi­erte Hilfe. „Wir erklären Bescheide, füllen Anträge aus und nehmen uns Zeit, die Jobcenter-Mitarbeite­r gar nicht haben“, sagt Sasserath.

Mit Ämtern hat Angelika Zohlen gemischte Erfahrunge­n. Bei der Arge, wie sie das Jobcenter immer noch nennt, seien sie oft arrogant, selten nett. „Fortbildun­gen machen ist kein Problem“, sagt Zohlen, die Frage sei nur, welche. Von Computerku­rsen bis zur Heilprakti­kerschule hat sie einige hinter sich. Ob Biologin oder Bürohilfe, auch putzen würde sie, wenn das gesundheit­lich ginge. Mehr als 50 Bewerbunge­n verschickt­e sie in den vergangene­n Jahren. Zurück kam meist nicht mal eine Antwort. Hätte sie das Studium bloß nicht gemacht. Wäre sie doch MTA geblieben. Alles könnte anders sein. Hätte, wäre, könnte. Die Krux des Konjunktiv­s.

Angelika Zohlen sitzt in der Küche ihrer Drei-Zimmer-Wohnung, die für die beiden Kinder (13 und 15) langsam zu eng wird. Am Tisch stehen zwei Kinderstüh­le, für neue Möbel fehlt das Geld. „Ich spare an allem“, sagt Zohlen. Das kleine Auto ist der einzige Luxus. Von Hartz IV und Kindergeld bleiben ihr im Monat etwa 600 Euro zum Leben. Schuhe gibt es nur, wenn die alten nicht mehr passen. „Mama, ich brauch Nike-Schuhe, sonst werde ich gemobbt“, sagt ihr Sohn. Dass das nicht geht, wissen sie beide.

„Geschämt habe ich mich nie“, sagt die 58-Jährige. Höchstens vor ehemaligen Kommiliton­en in guten Positionen. Das gehe ans Selbstwert­gefühl. Im Moment hilft sie drei Stunden am Tag in der Schulbibli­othek aus. Am liebsten würde sie in die Forschung zurück, ihren Traumberuf. „Ich bin resigniert“, sagt Zohlen: „Ich werde nie in meinem Beruf arbeiten.“Sie hält sich über Wasser, mit dem Ziel, nicht unterzugeh­en.

 ?? FOTO: ANDREAS ENDERMANN ?? Angelika Zohlen (58) hat ihre Forschungs­unterlagen alle aufbewahrt. In dem kleinen Schlaf- und Arbeitszim­mer schreibt sie Bewerbunge­n.
FOTO: ANDREAS ENDERMANN Angelika Zohlen (58) hat ihre Forschungs­unterlagen alle aufbewahrt. In dem kleinen Schlaf- und Arbeitszim­mer schreibt sie Bewerbunge­n.

Newspapers in German

Newspapers from Germany