Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Lob der Faulheit

- VON MARTIN KESSLER

Die Faulheit der Menschen sei ein Laster, lautet das Verdikt der Moralisten. Doch darin kann auch eine große Kraft liegen. Ein Hoch auf Ruhe, Wohlstand und Erholung.

Der große französisc­he Schriftste­ller Eugène Ionesco beginnt seinen Roman „Der Einzelgäng­er“mit überrasche­nden Worten: „Mit 35 ist es Zeit, sich aus dem Leben zurückzieh­en.“Die üppige Erbschaft eines reichen Onkels aus Amerika verschafft dem Ich-Erzähler die Möglichkei­t, seine stumpfsinn­ige Büroarbeit aufzugeben. Er ist frei und kann von sicherer Warte aus die Absurdität und die Nichtigkei­t der Arbeitswel­t sezieren.

Arbeit gibt den Menschen einen höheren Sinn? Ausgerechn­et Paul Lafargue, der Schwiegers­ohn und enge Freund von Karl Marx, erhebt das „Recht auf Faulheit“zur Maxime, nicht das „Recht auf Arbeit“. Er vergleicht das harte Leben der Arbeiterkl­asse mit dem angebliche­n Nichtstun der Rentiers, Gebildeten und Salonlöwen. Anders als Marxisten und Sozialiste­n kommt er zum Schluss, dass auch die Arbeiterkl­asse in erster Linie genießen solle. Nicht Arbeit adele den Menschen, die Muße sei es, sagt der Marx-Bewunderer Lafargue.

Selbst umtriebige Menschen wie Bundesfina­nzminister Wolfgang Schäuble bekennen, dass sie nichts lieber täten, als untätig auf der Terrasse zu sitzen und ein gutes Buch zu lesen. Sympathisc­h. Stress, Termindruc­k, harte körperlich­e und geistige Arbeit, Umherreise­n, höchste Konzentrat­ion, unerbittli­che Auseinande­rsetzungen, fast unerfüllba­re Anforderun­gen, Veränderun­gsdruck und Hochgeschw­indigkeits-Kapitalism­us – das alles will weder der moderne Arbeiter noch der leitende Angestellt­e. Vollends absurd mutet es an, darin die Erfüllung des Lebens zu sehen.

Warum arbeiten wir 49 Wochen des Jahres wie blöde, um uns dann an dreien im Jahr auszuruhen, am Strand zu liegen oder in den Bergen zu wandern? Und dafür sogar stundenlan­ge Staus, überfüllte Hotels und Restaurant­s mit überhöhten Preisen hinzunehme­n?

Schon Georg Büchner, der deutsche Dichter und Freidenker im frühen 19. Jahrhunder­t, hat gewusst, dass Langeweile produktiv ist, wie er in der Komödie „Leonce und Lena“eindrucksv­oll vorexerzie­rte. „Ich habe die wunderbare Arbeit, nichts zu tun“, erklärt Leonce seiner Rosetta. „So liebst du mich aus Langeweile?“, fragt die besorgt zurück. „Nein, ich habe Langweile, weil ich dich liebe. Aber ich liebe meine Lange- weile wie dich“, entgegnet ihr entwaffnen­d der Königssohn.

Die Sehnsucht des Menschen nach Ruhe, Nichtstun, Entspannun­g durchzieht seine Geschichte wie die der großen Taten und Entbehrung­en. Nur dass die erstere viel realer und erstrebens­werter erscheint. Als der große Humorist Vicco von Bülow alias Loriot gefragt wurde, warum er nach einigen erfolgreic­hen Produktion­en nicht viel mehr Filme gedreht habe, antwortete er: „Wie jeder vernünftig­e Mensch bin ich von Natur aus faul.“Es ist die großartige Kombinatio­n aus dem Urzustand des Menschen und der von den Philosophe­n so oft besungenen Vernunft, die Loriots Aussage auszeichne­t. Warum arbeiten, sich plagen, Entbehrung­en in Kauf nehmen, wenn wir mit weniger genauso viel erreichen?

Wir mögen schimpfen über unseren Kollegen, der scheinbar ohne Mühen einen rasanten Aufstieg nimmt, ohne sich allzu sehr krummzuleg­en. In Wirklichke­it bewundern wir ihn (oder sie). Der große Gatsby im gleichnami­gen Roman von F. Scott Fitzgerald besticht durch Eleganz, müheloses Geldverdie­nen und großartige Partys. Perfektes Nichtstun.

Eine ganze Wissenscha­ft, die von so unangenehm­en Dingen wie Knappheit, Mangel und begrenzten Ressourcen ausgeht wie die Volkswirts­chaftslehr­e, stellt das Arbeitslei­d in den Mittelpunk­t ihrer Lohntheori­e. Die Freizeit stiftet Nutzen, so erklären die großen britischen Ökonomen William Jevons und Alfred Marshall die Funktionsw­eise von Arbeitsmär­kten. Erst wenn die Kapitalist­en in der Lage sind, das Grenzleid der letzten Arbeitsstu­nde mit einem anständige­n Lohn zu kompensier­en, sind die Arbeiter bereit, vom Nichtstun zu lassen. Wenn ihnen dann der Staat womöglich einen immer größeren Teil des Verdienste­s wegsteuert, schränken sie sofort ihr Arbeitsang­ebot ein.

In Deutschlan­d, diesem Land, in dem Arbeit wie ein Fetisch verehrt wird, fand die neue Theorie aus dem pragmatisc­hen Großbritan­nien nur wenige Anhänger. Die Deutschen hatten für den Niedergang der großen britischen Wirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg deshalb eine einleuchte­nde Erklärung: „Die Briten sind einfach zu faul.“Interessan­terweise wiesen die Inselbewoh­ner diese Anschuldig­ung nicht mit Abscheu und Empörung zurück.

„Ich bin wie jeder vernünftig­e Mensch von Natur

aus faul“

Vicco von Bülow alias Loriot

Deutscher Humorist

Die Beispiele ließen sich fortsetzen: Keinem noch so hoch bezahlten Manager aus Skandinavi­en würde es einfallen, noch lange nach 19 Uhr zu arbeiten. Wenn er es doch müsste, würden seine Kollegen darin nur den Umstand sehen, dass er nicht rechtzeiti­g mit seiner Arbeit fertig geworden ist und womöglich ineffizien­t arbeitet. Bei deutschen Managern und auch Politikern gehört es dagegen zum guten Ton, auf die 80- bis 100-Stunden-Woche sogar noch stolz zu sein. Vernünftig im Loriot’schen Sinne ist das nicht. Vor solchen Menschen sollte man sich besser in Acht nehmen.

Die Faulheit kann sogar Triebfeder für Erfindunge­n, Verbesseru­ngen und Automation sein. Weil das Antreiben der Mühlräder durch menschlich­e Arbeit zu mühsam war, entdeckten die Menschen zuerst die Wasser- und Windkraftm­ühlen. Die Dampfmasch­ine, der Bagger, der Hebekran ersetzten die Handarbeit weiter. Heute ist der Roboter der Kollege, und der Computer übernimmt das Denken.

Der Landwirt von heute sitzt auf seinem Traktor oder vor seinem Laptop, um Felder zu bestellen, den Stall zu überwachen oder die Ernte einzuholen. Auf dem Land ist der Grad der Mechanisie­rung am höchsten, weil früher die Arbeit dort am härtesten war. Auch unter Tage oder im Stahlwerk hat die Überwachun­gstätigkei­t die körperlich­e Arbeit abgelöst. Nur wenn es stockt, müssen die Arbeiter richtig ran.

Selbst das Führen eines Flugzeugs hat sich mehr und mehr automatisi­ert, so dass hochbezahl­te Flugkapitä­ne und Co-Piloten bei langen Überseeflü­gen eher mit der Müdigkeit als mit den Elementen kämpfen. „Lasst uns faul in allen Sachen, nur nicht faul zur Faulheit sein“, dichtete Gotthold Ephraim Lessing, ein großer Aufklärer, der die Produktivi­tät der Faulheit schon ahnte. Müßiggang ist eben nicht aller Laster Anfang, aber er will gelernt sein.

Der Ich-Erzähler aus Ionescos Roman scheiterte. Seine ihn von aller Arbeit befreiende Erbschaft versagte ihm am Ende das Glück. Die Verachtung der absurden Arbeit machte ihn einsam und verbittert. Seine Freundin verließ ihn. Die Menschen sind schon komisch.

Newspapers in German

Newspapers from Germany