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Wirbel um Suizid in neuer Serie

- VON TOBIAS JOCHHEIM

Die Netflix-Serie „Tote Mädchen lügen nicht“will aufklären und abschrecke­n – Kritiker befürchten Nachahmung­staten.

DÜSSELDORF Die Schülerin Hannah Baker hat sich das Leben genommen – und zuvor noch Sprachnach­richten verschickt mit Vorwürfen an jene Menschen, denen sie Mitschuld an ihrem Tod gibt, darunter viele Mitschüler und der Schulpsych­ologe. Das ist die fiktive Handlung des preisgekrö­nten Buchs „13 Reasons Why“, das 2007 in den USA zum Bestseller wurde und unter dem Titel „Tote Mädchen lügen nicht“auch in Deutschlan­d populär wurde. Für eine scharfe Kontrovers­e sorgt nun eine Verfilmung als Serie beim Streamingd­ienst Netflix.

Das Buch gilt allgemein als so gelungen, dass es teils im Schulunter­richt behandelt wird, um für die möglichen Folgen von Mobbing, sexueller Gewalt und seelischen Krankheite­n zu sensibilis­ieren. „Das Buch ist toll“, sagt auch Barbara Schneider, Chefärztin in der LVRKlinik Köln für Psychiatri­e und Psychother­apie und Vorsitzend­e der Deutschen Gesellscha­ft für Suizidpräv­ention (DGS). Alarmiert ist sie aber von der Serie. Wie auch andere Prävention­sexperten befürchtet sie, dass sie labile Teenager zu Nachahmung­staten anregen könnte, anstatt abzuschrec­ken – zumal auch der blutige Suizid selbst detaillier­t gezeigt wird. „Das sollte auf keinen Fall so sein“, sagt Schneider.

Die Gegenmeinu­ng vertritt Nic Sheff. „Das Verantwort­ungslosest­e, was wir hätten tun können, wäre, den Tod überhaupt nicht zu zeigen“, schreibt der Co-Autor der Serie in einem offenen Brief. Zu dieser Haltung ist Sheff nicht irgendwie gekommen. Er selbst hatte einen Suizidvers­uch unternomme­n und erst abgebroche­n, als er sich an eine Frau erinnerte, die ihm in einer Gruppenthe­rapie von den unmenschli­chen Schmerzen bei ihrem eigenen Versuch berichtet hatte, von Blut und Erbrochene­m. Dadurch sei er wieder zur Besinnung gekommen und habe an seinen Hund gedacht, dem er dann nach Abbruch seines Versuchs weinend um den Hals gefallen sei. „Suizid ist nie friedlich und schmerzlos, sondern ein qualvolles, gewalttäti­ges Ende aller Hoffnungen, Träume und jeder Zukunft“, schreibt er. Heute genießt er das Leben – und fühlt sich verpflicht­et zu zeigen, was Suizid bedeutet, „in all seinem Horror“.

Netflix selbst verweist auf die 30minütige Dokumentat­ion zur Serie, die zeitgleich online gestellt wurde. Die Kritiker halten das für nicht ausreichen­d. Besonders unglücklic­h sind sie mit der Darstellun­g des Schulpsych­ologen, der das Mädchen nicht ernst nimmt. Der Verein „Freunde fürs Leben e.V.“sieht die Gefahr, dass sich „Zuschauer mit Depression­en oder Suizidgeda­nken mit der Hauptfigur Hannah identifizi­eren und die scheinbare Ausweglosi­gkeit ihrer Geschichte auf ihren eigenen Leidensweg projiziere­n“.

In einer gemeinsame­n Erklärung rügen die DGS, Caritas und das Prävention­sprojekt U25, die Serie romantisie­re die Selbsttötu­ng, trivialisi­ere sie auch „als eine Art ‘Spiel’ mit Aufgaben und Regeln für die Hinterblie­benen“und verpasse es, Wege aus Problemen und Krisen aufzuzeige­n. Tatsächlic­h kommt in „Tote Mädchen lügen nicht“das Thema psychische Gesundheit kaum vor, nicht einmal das Wort „Depression“wird erwähnt. Dabei sind Suizidgeda­nken und -versuche meist Folge psychische­r Erkrankung­en, die wiederum behandelba­r sind.

Die Organisati­onen begrüßen jedoch die öffentlich­e Debatte um das Thema Suizid, das meist tabuisiert wird, obwohl sich allein in Deutschlan­d mehr als 10.000 Menschen pro Jahr das Leben nehmen – drei Mal so viele, wie durch Verkehrsun­fälle sterben. Seelisch gesunden Zuschauern empfehlen sie die Serie sogar, weil sie betone, welche Verantwort­ung jeder einzelne für sich und seine Mitmensche­n trage.

 ?? FOTO: BETH DUBBER/NETFLIX ?? Wie Clay (Dylan Minnette) den Suizid seines Schwarms Hannah (Katherine Langford) verarbeite­t, ist Thema der umstritten­en Serie „Tote Mädchen lügen nicht“(im Original nach dem gleichnami­gen Buch „13 Reasons Why“).
FOTO: BETH DUBBER/NETFLIX Wie Clay (Dylan Minnette) den Suizid seines Schwarms Hannah (Katherine Langford) verarbeite­t, ist Thema der umstritten­en Serie „Tote Mädchen lügen nicht“(im Original nach dem gleichnami­gen Buch „13 Reasons Why“).

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