Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

JÜRGEN HABERMAS

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Keine Muslima muss Herrn de Maizière die Hand geben

Der juristisch gebildete Innenminis­ter erstaunt mich. Eine liberale Auslegung des Grundgeset­zes ist mit der Propagieru­ng einer deutschen Leitkultur unvereinba­r. Eine liberale Verfassung verlangt nämlich die Differenzi­erung der im Lande tradierten Mehrheitsk­ultur von einer allen Bürgern gleicherma­ßen zugänglich­en und zugemutete­n politische­n Kultur. Deren Kern ist die Verfassung selbst. Erforderli­chenfalls können Minderheit­en sogar kulturelle Rechte einklagen, die ihnen erlauben, die Integrität ihrer Lebensform im Rahmen der gemeinsame­n politische­n Kultur zu wahren. Keine Muslima darf dazu genötigt werden, beispielsw­eise Herrn de Maizière die Hand zu geben.

Allerdings muss die Zivilgesel­lschaft von den eingewande­rten Staatsbürg­ern erwarten, dass sie sich in die politische Kultur einleben – auch wenn sich das rechtlich nicht erzwingen lässt. Dazu gehören auch die geschichtl­ichen Kontexte der neuen Heimat, von denen das Selbstvers­tändnis der Staatsbürg­er und vor allem die Interpreta­tion der Verfassung­sprinzipie­n zehrt. Aber im Fluss einer lebendigen demokratis­chen Streitkult­ur stehen die Inhalte der politische­n Kultur nicht still. Die Eingebürge­rten können genauso wie die Alteingese­ssenen ihre eigene Stimme in den Prozess der Fort- und Umbildung dieser Inhalte einbringen. Für die definieren­de Kraft dieser Stimmen sind bei uns heute die erfolgreic­hen Schriftste­ller, Filmregiss­eure, Schauspiel­er, Journalist­en und Wissenscha­ftler aus den Familien der ehemaligen türkischen „Gastarbeit­er“das beste Beispiel. Daher widersprec­hen Versuche der rechtliche­n Konservier­ung einer Leitkultur nicht nur einem liberalen Grundrecht­sverständn­is; sie sind auch unrealisti­sch. Der Autor Jürgen Habermas wurde 1929 in Düsseldorf geboren. Er war Professor für Philosophi­e und Soziologie und zählt zu den einflussre­ichsten Intellektu­ellen der Welt.

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