Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch
Antisemitismus ist ein Akt der Gewalt
Der Kritik von Beschneidungsgegnern antwortet der Vorsitzende des Bundesverbands Jüdischer Mediziner.
DÜSSELDORF Am 25. April 2017 wurde ein Gastbeitrag des Psychotherapeuten Matthias Franz mit der Überschrift „Beschneidung ist ein Akt der Gewalt“in der Rheinischen Post veröffentlicht. Anlass war die in der Universitätsklinik Düsseldorf stattfindende Fachtagung zum Thema „Jungenbeschneidung in Deutschland“. Im Namen des Bundesverbands Jüdischer Mediziner möchte ich zu diesem Beitrag und der Fachtagung Stellung nehmen.
Im Judentum wird die Zirkumzision der männlichen Neugeborenen am achten Lebenstag durchgeführt und gilt als „Zeichen des Bundes, den Gott mit seinem Volk schloss“(hebräisch Brit Mila). Sie ist ein zentrales biblisches Gebot, das zu den Kernelementen des Judentums gehört und identitätsgebend ist. Ein Verbot der Brit Mila macht jüdisches Leben in Deutschland unmöglich. Diese Tatsache wurde vermutlich bei der Verabschiedung des Gesetzes zur „Beschneidung des männlichen Kindes“(Paragraf 1631d) durch den Bundestag in gewisser Weise beachtet. Insbesondere berücksichtigt dieses Gesetz aber auch, dass ungeachtet religiöser oder kultureller Gründe die Zirkumzision eines Neugeborenen aus rein medizinischer oder hygienischer Sicht von Eltern als sinnvoll erachtet werden kann. Zwar behauptet Professor Franz in seinem Beitrag, dass es „aus medizinischer Sicht keinen Grund gibt, einem gesunden kleinen Jungen seine gesunde Vorhaut abzuschneiden“. Eine derart simplifizierende und absolute Aussage kann einer genauen Bewertung der aktuellen Datenlage nicht standhalten.
Mehrere, teils in den renommiertesten Fachzeitschriften publizierte Studien konnten zeigen, dass die Beschneidung zu einer signifikanten Reduktion von sexuell übertragbaren Erkrankungen wie zum Beispiel HIV- oder HPV-Infektionen führen kann. Deshalb wird die Beschneidung auch von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Ländern mit hohem AIDS-Risiko empfohlen. Ebenso wird die Rate an Harnwegsinfektionen und Entzündungen der Eichel und Vorhaut (Balanitis, Post- hitis oder Balanoposthitis), die wiederum Phimosen begünstigen können, signifikant reduziert. Es ist auch erwiesen, dass beschnittene Männer seltener an Peniskarzinomen erkranken. Die Beschneidung ist beim Neugeborenen schonender und komplikationsärmer als bei älteren Kindern oder Erwachsenen. So sind beim Neugeborenen Komplikationen sehr selten (weniger als ein Prozent) und umfassen in aller Regel einfach zu kontrollierende Nachblutungen oder Wundinfekte.
Die amerikanische pädiatrische Vereinigung (American Academy of Pediatrics, AAP) schlussfolgert daher in einem 2012 veröffentlichten Positionspapier, dass die Vorteile einer Beschneidung der männlichen Vorhaut von Neugeborenen die Risiken überwiegen und diese durchgeführt werden sollte, wenn die Eltern sie wünschen. Folglich werden in den USA etwa 50 Prozent der Neugeborenen, überwiegend aus nicht religiösen Gründen, beschnitten.
Vor dem Hintergrund der Vielschichtigkeit dieses Themas wäre eine sachliche und objektive Diskussion im Rahmen der erwähnten Fachtagung wünschenswert. Bei Betrachtung des Programms wird allerdings ersichtlich, dass die Veranstalter die Beschneidung kategorisch ablehnen und ausschließlich Verfechter eines Beschneidungsverbots als Referenten eingeladen haben. Bezeichnend ist, dass die jüdische Sichtweise von einem extrem engagierten dänischen Beschneidungsgegner vertreten werden soll. Ein derartiges Vorgehen widerspricht den Grundsätzen einer wissenschaftlichen Fachtagung, die daher nicht als Forum für einen wie angekündigt „fundierten und respektvollen Dialog“dienen kann. Zutiefst erschreckend ist es, dass diese manipulative Veranstaltung von der Universitätsklinik Düsseldorf kommentarlos beworben und unterstützt wird.
Einen bitteren Vorgeschmack auf die Veranstaltung bietet der erwähnte Gastbeitrag von Matthias Franz, der vordergründig die potenziellen Folgen einer rituellen Beschneidung von älteren Jungen thematisiert. Es ist sicherlich nachvollziehbar, dass eine religiöse oder auch medizinisch indizierte Beschneidung im (Vor)Schulalter unter bestimmten Umständen als traumatisierend empfunden werden kann. Den Betroffenen gebührt uneingeschränkte Unterstützung bei der Bewältigung ihrer posttraumatischen Belastungsstörungen. Unseriös und unverantwortlich ist, dass Franz in seinem Beitrag nicht explizit auf die relevanten Unterschiede zwischen einer Beschneidung bei älteren Jungen und Neugeborenen eingeht. Vielmehr ge- ben die teils martialischen („Der Stärkere darf dem Schwächeren im Namen eines Gottes Körperteile abschneiden“) und mehrdeutigen Textabschnitte der Leserschaft viel Raum für Interpretationen. In diesem Zusammenhang ist insbesondere die Aussage, dass das „Handeln im Tätermodus wie so oft das Erinnern im Opfermodus erspart“, einen Tag nach den weltweiten Holocaust-Gedenkveranstaltungen wohlwollend gesagt unglücklich. Man kann nur darüber spekulieren, ob dieser Interpretationsspielraum oder purer Dilettantismus zu der skandalösen Illustrierung des Beitrags durch die Rheinische Post beigetragen hat. Das Bild eines verängstigt aussehenden jüdischen Vaters mit seinem Kind in der Synagoge und ein reißerischer Titel; mehr wird nicht benötigt, um antisemitische Stereotypen („Juden quälen Kinder“) zu bedienen und Ressentiments zu schüren. Und hier kommen wir zum entscheidenden Punkt. Die tatsächliche Gefahr für jüdische Mitbürger, einen körperlichen oder seelischen Schaden zu erleiden, liegt nämlich in dem zunehmenden und immer offener ausgelebten Antisemitismus in Deutschland. Jüdische Kinder werden beleidigt, drangsaliert oder geschlagen und in besonders schwerwiegenden Fällen, wie kürzlich in Berlin-Friedenau geschehen, von der Schule vertrieben.
Wenn sich die Veranstalter der Fachtagung also tatsächlich für das Wohlergehen jüdischer Kinder einsetzen wollen, so sollten sie sich primär der Bekämpfung antisemitischer Tendenzen und Missstände in unserer Gesellschaft widmen. Denn genau dieser Antisemitismus ist nach weitläufiger Forschungsmeinung ein Akt der Gewalt, und zwar an jüdischen Menschen aller Altersstufen.