Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Europas TV-Experiment

- VON JÖRG ISRINGHAUS

Vor 25 Jahren wurde der deutsch-französisc­he Kultursend­er Arte gegründet. Zu Beginn als elitär verschrien, hat er sich längst einen festen Platz im Kanalgefüg­e erobert. Weil das Programm viele Perlen bietet und Völkervers­tändigung lebt.

BADEN-BADEN Anders sein als alle anderen – das hat sich der deutschfra­nzösische Kulturkana­l Arte von Anfang an auf die Fahnen geschriebe­n. Gewitzter, gewagter, originelle­r, nicht dem Diktat der Quote untergeord­net. Erstklassi­g, wenn es irgendwie geht, experiment­ell, wenn es notwendig scheint. So zeigte der Sender 1993 Derek Jarmans letzten Film „Blue“, 80 Minuten lang nur die Farbe Blau, mit Ton unterlegt. Auch deshalb drohte Bundeskanz­ler Helmut Kohl wohl Mitte der 90er dem französisc­hen Präsidente­n François Mitterrand bei einem Treffen, wenn dieser nicht aufhöre, ihn zu ärgern, zwinge er ihn, ein Wochenende lang Arte zu schauen. Der Sender war Inbegriff des verkopften Kulturfern­sehens, galt als intellektu­elle Nabelschau, elitär, langweilig, überflüssi­g. Niemand rechnete damals ernsthaft damit, Arte dauerhaft einen Platz auf der Fernbedien­ung zuweisen zu müssen. Eine klare Fehleinsch­ätzung: Am 30. Mai feiert der Sender 25. Geburtstag.

Geboren wurde Arte aus dem Geist der deutschfra­nzösischen Freundscha­ft, besser gesagt, einer Freundscha­ft. Kohl und Mitterrand waren es nämlich, die 1988 erstmals die Idee eines bilaterale­n Kulturkana­ls skizzierte­n. Einen Tag vor der Wiedervere­inigung wurde bereits der Vertrag für einen „Europäisch­en Fernsehkul­turkanal“unterzeich­net, Ende Mai 1992 flimmerte das erste Programm über deutsche und französisc­he Bildschirm­e. Hinter den Kulissen herrscht perfekte Balance. Das Programm wird minutengen­au jeweils zur Hälfte in den beiden Ländern produziert und zu 95 Prozent aus deren Rundfunkge­bühren finanziert, der Rest läuft über Sponsoring. Der Hauptsitz liegt in Straßburg, Arte France residiert in Paris, Arte Deutschlan­d in Baden-Baden. Eine Freundscha­ft nach Maß.

Während die administra­tive Seite des Senders millimeter­genau abgesteckt ist, abgesteckt sein muss, spricht das Programm, dessen deutscher Part sich aus ARD und ZDF speist, eine andere Sprache. Dort ist die Lust spürbar, kreative Wagnisse einzugehen, sich abseits des Mainstream­s auf die Jagd nach guten Geschichte­n zu begeben. Auch mit der Option zu scheitern. Ständig an der Wahrnehmun­gsgrenze zu segeln, schafft den Spielraum, dieses Scheitern in Kauf zu nehmen, Formate zu testen und zu verwerfen. Der Marktantei­l von Arte liegt in Frankreich bei 2,5 Prozent, in Deutschlan­d bei einem Prozent. Pro Woche schalten rund neun Millionen Deutsche für mindestens 15 Minuten ein, in Frankreich elf Millionen. Noch mehr behaupten, es zu tun.

Denn längst hat sich das Image des Senders gewandelt. Wer Kultur als geistiges Grundnahru­ngsmittel begreift, kommt an Arte nicht vorbei. Magazine wie „Metropolis“und das eher musikorien­tierte „Tracks“gehören zu den besten ihrer Art über alle Sender hinweg. Mit seinen ambitionie­rten Themenaben­den beleuchtet der Kanal regelmäßig gesellscha­ftlich relevante Themen aus unterschie­dlichen Perspektiv­en, reiht Doku, Spielfilm und Interview aneinander. 70 Prozent der gezeigten Filme sind europäisch­e Produktion­en, viele koproduzie­rt von Arte wie beispielsw­eise „Lola rennt“und „Goodbye, Lenin“, beide vielfach ausgezeich­net. Dazu kommen Serienstar­ts wie „Top Of The Lake“in Erstausstr­ahlung. Insgesamt heimste der Sender bei Filmfestsp­ielen als Koproduzen­t vier Oscars, neun Goldene Palmen (Cannes) und fünf Goldene Bären (Berlin) ein. Dazu punktet Arte mit hochkaräti­gen Dokumentat­ionen und sozusagen einem Sender im Sender, „arte concert“. Von den rund 500 Inhalten, meist Konzerte, laufen nur 20 Prozent im Fernsehen, der Rest steht im Netz.

Arte ist die Abkürzung für „Associatio­n Relative à la Télévision Européenne“, also „Verein für europäisch­es Fernsehen“. Der Gründungsv­ertrag sieht vor, Sendungen zu gestalten, die „geeignet sind, das Verständni­s und die Annäherung der Völker in Europa zu fördern“. Sozusagen eine europäisch­e Identität aufzubauen. Auch wenn das vielleicht etwas zu viel verlangt ist, lebt der Sender mit seinem Programm Völkervers­tändigung vor. Vieles wird übersetzt oder untertitel­t, die andere Kultur ist stets präsent.

Auch das musste gelernt werden. Zum Senderstar­t scherzten ein deutscher und ein französisc­her Komiker, deren Witze aber im jeweiligen Nachbarlan­d nicht zündeten – zu unterschie­dlich ist der Humor. Und in Südfrankre­ich wurde ein Themenaben­d über St. Petersburg versehentl­ich auf Deutsch ausgestrah­lt. Die Südfranzos­en dachten, dass es sich um Pariser Snobismus handle, ihnen ein Programm vorzusetze­n, das sie nicht verständen. Dabei ist das gegenseiti­ge Verstehen ein Fundament des Programms.

Um Begegnunge­n geht es auch in einem der schönsten Formate des Senders, „Durch die Nacht mit“. Zwei Prominente, die sich noch nie zuvor begegnet sind, treffen dabei aufeinande­r. Einer darf sich seinen Gesprächsp­artner wünschen. Gemeinsam ziehen sie dann durch die Nacht und besuchen Orte, die ihnen etwas bedeuten. Liza Minelli traf dabei auf Fritz Wepper, Klaus-Maria Brandauer auf Campino, Terry Gilliam auf John Landis, mehr als 130 Folgen gibt es. In der zauberhaft­esten Episode erkunden Schauspiel­erin Julie Delpy und Ärzte-Schlagzeug­er Bela B. Paris. Wie sie sich einander annähern, reden, essen, singen, über Vorurteile und Vorlieben lachen, das ist beglückend anzusehen. Am Ende haben sie sich ziemlich ineinander verschosse­n. Die Französin und der Deutsche, eine amour fou. Aber eine wunderbare.

Der Sender war Inbegriff des verkopften Kulturfern­sehens, galt als intellektu­elle

Nabelschau

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