Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Der digitale Erbfall

- VON HENNING RASCHE UND FLORIAN RINKE

DÜSSELDORF Ein Kind ist tot. 15 Jahre alt wurde das Mädchen, bevor es 2012 in einem Berliner U-Bahnhof von einem Zug erfasst wurde. Doch der Fall wird noch beklemmend­er. Es steht der Verdacht im Raum, dass sich das Mädchen freiwillig vor den Zug geworfen hat. Die Mutter erhofft sich Gewissheit und will diese auf dem Facebook-Konto ihrer Tochter finden. Das sogenannte soziale Netzwerk aber lässt sie nicht herein. Und das, obwohl die Mutter nach eigenen Angaben sogar die Zugangsdat­en ihrer Tochter hat.

Das Kammergeri­cht Berlin, also das Oberlandes­gericht, hat gestern diese Entscheidu­ng verkündet und damit ein wegweisend­es Urteil gefällt. Es ist wahrschein­lich, dass der Bundesgeri­chtshof und möglicherw­eise auch das Bundesverf­assungsger­icht sich mit diesem Fall noch beschäftig­en werden. Denn hinter dem tragischen Einzelfall steckt eine drängende gesellscha­ftliche Problemati­k. Die Anzahl der Menschen mit Konten bei E-Mail-Anbietern und sozialen Netzwerken wächst exorbitant. Allein Facebook hat hierzuland­e mehr als 28 Millionen Nutzer. Was geschieht mit all den Daten nach dem Tod?

Verbrauche­rschützer raten schon seit längerer Zeit dazu, dem analogen Testament ein digitales hinzuzufüg­en. Man solle den Umgang mit Daten genauso regeln wie den Umgang mit Häusern und Autos. Das 15 Jahre alte Mädchen aber durfte noch kein Testament verfassen – das geht frühestens mit 16. Und deswegen landen Fälle wie diese immer häufiger bei Gerichten, die auf der Basis von Gesetzen urteilen müssen, die teilweise älter als 100 Jahre sind. Die Richter müssen Fragen klären, an die der Verfasser des Bürgerlich­en Gesetzbuch­es niemals hätte denken können. Der Gesetzgebe­r des Jahres 2017 indes könnte und er müsste aktiv werden, um den Juristen Regeln an die Hand zu ge- ben, wie Deutschlan­d mit dem digitalen Erbfall umzugehen gedenkt. Aber er tut sich schwer damit, diese Dinge anzufassen. Facebook ist ein mächtiger Gegner.

Die Nutzungsbe­dingungen von Facebook bieten zwei Wege nach dem Tod eines Nutzers. Entweder das Profil wird auf Antrag in einen Gedenkzust­and versetzt oder aber das Profil wird gelöscht. Für diesen Schritt allerdings verlangt Facebook eine Sterbeurku­nde.

Die Berliner Entscheidu­ng jedenfalls ist erstaunlic­h. Jahrelang schickte Facebook private Daten seiner europäisch­en Nutzer in die USA, obwohl klar war, dass sie dort von US-Geheimdien­sten ausgelesen wurden. Und plötzlich beruft es sich in Deutschlan­d auf das Fernmeldeg­eheimnis, um einer Mutter den Zugang zum Konto der Tochter zu verweigern. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass ausgerechn­et die Datenkrake Facebook, die ihre Nutzer nach allen Regeln der Kunst ausspäht, sich nun auf Dinge wie Privatsphä­re und Datenschut­z beruft.

Thomas Hoeren, Professor für Medienrech­t an der Universitä­t Münster, gibt zu bedenken: „Die Verbindung von Facebook zu seinen Nutzern ist nun stärker geschützt als die Sorge der Eltern.“Er spricht von einem „radikalen Urteil“. Die Berliner Entscheidu­ng ist auch deswegen bedenklich, weil der Schutz der digitalen Kommunikat­ion über den eines klassische­n Briefes hinausreic­ht. Hätte die Mutter etwa unter dem Bett ihrer Tochter einen Stapel Briefe oder Tagebücher gefunden, so hätte sie diese einfach lesen können. Diese analogen Nachrichte­n sind Teil des Erbes, die digitalen aber nicht?

Das Kammergeri­cht ist der Argumentat­ion von Facebook gefolgt. Nicht nur der Datenschut­z der toten Tochter sei zu gewichten, sondern auch die Privatsphä­re derer, die sich mit ihr ausgetausc­ht haben. Das aber ist absurd; dem Verfasser eines Briefes wird das Dokument im Erbfall auch nicht wieder aus-

„Das Urteil ist sehr bedenklich und inhaltlich falsch“

Stephanie Herzog

Rechtsanwä­ltin für Erbrecht

Newspapers in German

Newspapers from Germany