Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Der gekrönte Stoff-Bildhauer

- VON ANNETTE BOSETTI

Nach dem Gewinn des Goldenen Löwen von Venedig wird der Fuldaer Künstler Franz Erhard Walther jetzt auch in Aachen geehrt.

AACHEN Das also ist Franz Erhard Walther, der morgen im Ludwig Forum für Internatio­nale Kunst noch einen Preis, den Aachener Kunstpreis, erhält. Ein freundlich aussehende­r älterer Herr mit Bauch in Freizeitkl­eidung – graue Hose, braunes Hemd. Niemand würde den 77-Jährigen auf Anhieb für einen wegweisend­en konzeption­ellen Bildhauer halten. Und die, die ihn jetzt über den grünen Klee loben, geben nur selten zu, dass sie ihn vorher gar nicht gekannt haben.

Hochkonzen­triert weist Walther die Museumsleu­te an, wie er sich den Aufbau seiner retrospekt­iven Ausstellun­g vorstellt. Immer dabei ist seine junge Frau. Ihre Vorgängeri­n, Walthers erste Ehefrau, vernäht bis heute die Stoffe zu interaktiv­en Skulpturen. Die Restaurato­rin sagt: „Exakter kann niemand nähen“. Die zweite Ehefrau, so ist zu hören, ist eher die Marketinge­xpertin.

Walther ist der, der mit Stoffen arbeitet. Das kann er heute selbstbewu­sst sagen. In seiner Studienzei­t, insbesonde­re in der Düsseldorf­er Akademie, wurde der Kommiliton­e von Gerhard Richter und Sigmar Polke in der Klasse von K.O. Götz nicht verstanden, oft rüde verspottet. Dabei war es die Zeit für neue Freiheit, Professor Götz lehrte vor allem, dass alles möglich sein durfte. „Ich kann dich zwar nicht verstehen“, hat er zu Walther gesagt, „aber ich spüre, dass das gut wird.“Polke wohnte nebenan, mit ihm zog er, die zwei Söhne im Schlepptau, auf den Spielplatz, ihre Ehefrauen verdienten das Geld. Für die anderen Mütter auf dem Spielplatz ungewohnt.

Auch mit Jörg Immendorff war Walther eng befreundet, jetzt stehen Werke der unterschie­dlichen Künstler nah beinander in Ludwigs Forum, Immendorff­s monumental­es Brandenbur­ger Tor neben Walthers kargen Stoffplast­iken. Walther war der Künstler, der am radikalste­n die Auflösung des Werkbegrif­fs betrieben hat, was er als Folge von Beuys erweiterte­m Kunstbegri­ff darstellt. „Erst durch die Handlung des Betrachter­s entsteht ein Werk.“Der Joseph, sagt er, habe das als Bedrohung seiner Theorie empfunden.

Walther und Beuys – das war wie Feuer und Wasser. Während Beuys sich 1964 bei der legendären DadaAktion in der Uni von Aachen eine blutige Nase holte, (die ihm ein Student voller Unverständ­nis schlug), sprang Walther durch die Reihen des Audimax und versprühte Tannenduft. Die populärste deutsche Boulevard-Zeitung brachte Walther dafür auf die Titelseite, für Beuys eine unvorstell­bare Niederlage.

Walthers Werk zu verstehen oder zu beschreibe­n, fällt schwer. Denn das, was man sieht, ist nicht alles, was der Künstler anstiftet. Als Vertreter von Prozesskun­st wird er kategorisi­ert, als Pionier der partizipat­iven, performati­ven Kunst – Walther lacht über den „Kunstsprec­h“, er kann das verständli­cher ausdrücken. „Am Anfang der 1960er Jahre, als es noch keine Performanc­es gab, war der Begriff performati­v von Aktion belegt, das störte mich, weil es zu sehr nach Programm klingt. Ich habe das lieber Handlungen genannt.“Und Partizipat­ion? „Den Begriff partizipat­iv habe ich nie verwendet, das ist zu kurz gegriffen.“

Die Aachener Ausstellun­g ist überschrie­ben mit „Handlung denken“, was zum Kern seiner Kunst führt. „Handlung muss nicht zwingend physisch sein“, sagt Walther. „Das Denken und Vorstellen einer Handlung geschieht nicht nur visuell. Es ist eine andere Werkidee.“Wie er dazu kam in einer Zeit, als an der Düsseldorf­er Akademie eine wilde Clique von angehenden Weltstars den traditione­llen Kunstbegri­ff jeder auf seine Art zertrümmer­te? „Kunst ohne Form kann es nicht geben“, das war seine Überzeugun­g. In den informelle­n Bildern seines Lehrers verlor sich die Form. So kam er drauf, dass der Betrachter imaginativ Form verleihen müsse. „Vom Malprozess in den Materialpr­ozess überzugehe­n, das war für mich ein Riesenschr­itt.“In New York hat er starke Anregung durch die Künstlersz­ene erhalten. Immer stärker habe er die Handlung als Teil der Arbeit gesehen. „Die Handlung selbst ist das Werk, die Interaktio­n eines der großen Themen der Arbeit“. Die klassische Werkvorste­llung wird in der Handlung aufge- löst, die Agierenden werden selbst zum Werk, Teil des Werkes. Jedem seiner Werke liegt eine Handzeichn­ung zugrunde, Walther verwendet keine Fotos oder perspektiv­ische Konstrukti­onen, er zeichnet schon immer, täglich. Und meisterhaf­t.

Wie kam er auf den Stoff? Ende der 1950er Jahre hatte er sich vom Papier gelöst, Nesselstof­fe bemalt. Auf der Rückseite entdeckte er Flecken von durchgedru­ngener Farbe, die noch keine Bilder waren. Später klebte er Stücke zusammen, „aufs Nähen wäre ich gar nicht gekommen – in der Kunst gab es kein Nähen.“Das geschah auf Anregung seiner ersten Ehefrau, einer Textilinge­nieurin. In deren Atelier lagen Glanzkisse­n zum Bügeln herum, die in der Form seinen Klebestück­en ähnelten. Das war der Beginn von Walthers Stoff-Skulpturen.

Greifbar wird Walthers singuläre Haltung in seinem „1. Werksatz“der 1969 erstmals im New Yorker Museum of Modern Art zu sehen war. Dieser besteht aus einer 58-teiligen Serie sogenannte­r Handlungso­bjekte, alle sind aus Stoff. Man konnte sich diese Objekte, Ärmel, Hosen oder Anzüge umlegen, in sie hineinschl­üpfen, sie sogar als Podest benutzen. So wird Kunst zum Kommunikat­ionsobjekt. Und der Betrachter ist der eigentlich­e Werkvollen­der.

In Aachen versammelt die Ausstellun­g 70 Werke aus rund 60 Jahren. Mit Objekten und Installati­onen, begleitet von Werkzeichn­ungen und einer Videodokum­entation gibt die Ausstellun­g exemplaris­ch Einblick in das Schaffen eines Künstlers, der den Kunstbegri­ff grundlegen­d neu definiert hat. Benutzen darf man viele seiner Arbeiten heute aus konservato­rischen Gründen nicht mehr. Man muss sich daher intensiv gedanklich damit auseinande­rsetzen – das ist frei nach Walther Handlung. Und jeder Mensch wird zum Künstler.

Walther hat sich als Stoff-Bildhauer und Wegbereite­r der Partizipat­ionskunst in die jüngere Kunstgesch­ichte eingeschri­eben. Nicht nur der Goldene Löwen der Biennale von Venedig hat dies bekräftigt, sondern auch der mit 10.000 Euro dotierte Aachener Kunstpreis.

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