Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch
Das Leben der Frau Dr. Jazz
Altstadt-Legende Lous Dassen kam vor 50 Jahren aus Holland nach Düsseldorf
Wenn Lous Dassen erzählt, wird die Altstadt der 1960er, -70er und -80er Jahren wieder lebendig. Mehr als heute ist sie damals berühmtes und beliebtes Ausgehviertel der Düsseldorfer. Tausende reisen, besonders am Wochenende, voller Erwartung auf pures Amüsement aus dem Umland an, weil es Vergleichbares im weiten Umkreis nicht gibt. Legendäre Adressen wie Lord Nelson, Pferdestall, Cream Cheese und Mata Hari locken, ihre Namen stehen für Glamour, Nachtleben, Prominenz und verruchtes Lotterleben. Nach rauschenden Parties bis in den frühen Morgen erzählt man voller Ehrfurcht noch Tage lang von diesen Festen, weil man Milieu-Größen beim Trinken, berühmte Künstler beim Flirten und scheinbar Reiche sieht, denen skandalöse acht Mark pro Glas Cola oder 150 Mark für eine Flasche Wodka offenbar völlig egal sind. Mit wohligem Schaudern hört man von diesem Viertel, das für einige der schiere Sündenpfuhl und voller Risiken der moralischen Art ist.
Zwar am Rande der Partymeilen, aber gefühlt mitten drin: Eine Kneipe namens Dr. Jazz. In ihr treten nahezu täglich unterschiedliche Bands mit einer eindeutigen musikalischen Botschaft auf: reiner Jazz und sonst nichts wird den verzückt lauschenden Patienten der so ganz und gar unmedizinischen Praxis vorgespielt. Und immer wieder greift die Wirtin selbst zum Mikro, singt mit dieser unvergleichlichen Stimme – und ist die Seele des Betriebes: Lous Dassen, sozusagen Frau Dr. Jazz. Damals, zu den Anfängen, vor fast 50 Jahren, beginnen für sie bewegte Jahre – aufregend, nie langweilig, erfolgreich, aber auch mit spektakulären Brüchen.
Bei Henkel hat Lous Das
sen nichts zu tun. Aus Langeweile tippt sie Zeitungsartikel auf der Schreibmaschine ab.
Das war allerdings so nicht geplant. Denn die junge Holländerin namens Lous aus der Gegend von Eindhoven kommt 1967 mit anderen Plänen nach Deutschland und an den Rhein. Sie hat sich auf eine Stelle als Fremdsprachensekretärin bei Henkel beworben – und den Job bekommen. „Ohne Vorstellungsgespräch!“, erzählt sie jetzt, 50 Jahre später – und kann es bis heute nicht begreifen. „Die wussten doch gar nicht, wen sie sich da geholt haben.“Womöglich sind es ihre Zeugnisse, von denen der Konzern beeindruckt ist. Denn sie spricht, jedenfalls auf dem Papier, Spanisch, Englisch, Französisch, Holländisch sowieso – und Deutsch. Also reist sie am 31. Mai 1967 nach Düsseldorf und tritt am Tag danach ihre Stelle an.
Das Problem: Sie hat einen Schreibtisch, eine Schreibmaschine, einen netten Chef – aber nichts zu tun. Damit das nicht so auffällt, spannt sie ein Blatt Papier in die Maschine und tippt vor lauter Langeweile Zeitungsartikel ab. Schnell wird klar: Das ist auf Dauer nichts für das niederländische Energiebündel aus dieser so sehr musikalischen Familie und schon damals mit reichlich Erfahrungen aus den familieneigenen Gastronomiebetrieben.
Lous wechselt, und weil ihre Ausbildung als chemisch-technische Bibliothekarin in Deutschland nicht anerkannt wird, darf sie zwar in der Stadtbücherei Düsseldorf arbeiten, aber auf keinen Fall die Kunden beraten. Also: Langeweile pur, Karteikarten soll sie sortieren – und das mit ihrer Ausbildung. Die Lösung: Zeitarbeit. Alles mögliche macht sie – pendelt zwischen Benrath (wo sie anfangs ein Zimmer bewohnt, das im Sommer 50 und im Winter – wegen der Heizung – 75 D-Mark kostet) und ihrem Job. Der Abend jedoch, der gehört den Freunden und der Altstadt. Dort entdeckt sie in der Mertensgasse das „Em Pöözke“, und hört die Musik, die sie schon immer geliebt hat: Jazz.
Sie lernt einen Gastronomen kennen, der ihr anbietet, mit ihm zusammen doch eine Kneipe zu führen. Die hat er auch bald an der Hand: Red Garber heißt das Lokal an der Rheinstraße, direkt neben dem Uerigen. Übersetzt: Rotes Strumpfband. Auf einer Fahne, die am Haus hängt, steht „Dr. Jazz“– weil drinnen der pure Jazz gespielt wird und die Menschen zur Musiktherapie der besonderen Art bittet. Bald sprechen die Gäste nur noch vom Dr. Jazz – und meinen diese Kneipe. Lous macht mit und muss anfangs zumindest formal im Hintergrund bleiben, denn als Niederländerin darf sie in Deutschland kein Lokal betreiben.
In den folgenden Jahren prägt der Dr. Jazz ihr Leben, beschäftigt sie jede Minute. Sie organisiert die Bands, sucht Musik aus, reist durch die Länder, um sie sich anzuhören und dann – immer aus dem Bauch heraus – zu entscheiden. Offenbar liegt sie meistens richtig, denn unter den Fans ist Dr. Jazz sehr schnell eine Art Wallfahrtsort, dessen Namen man ehrfurchtsvoll raunt, wenn von dieser Musik die Rede ist. „Einmal,“erzählt Lous Dassen, „einmal habe ich eine Band am Flughafen getroffen. Die waren eigens angereist, um mir zu zeigen, was sie draufhaben, hatten aber nicht viel Zeit. Also habe ich sie mir vor Ort angehört – und engagiert“.
Ein Gast findet, zu einem Dr. Jazz gehöre auch ein passendes Schild und lässt eines aus weißer Emaille herstellen – wie es sich für einen richtigen Mediziner gehört. Da steht in großen schwarzen Buchstaben der Name, darunter die Sprechzeiten – meist hat man bis ein Uhr nachts geöffnet, oft wird es deutlich später. Das Schild führt aber auch zu Missverständnissen: Ausländi- sche Touristen, die ein Wehwehchen behandeln lassen wollen, kommen herein und fragen nach dem Arzt. Dass Frau Dr. Jazz nicht helfen kann, führt dann schon mal zu irritierten Gesichtern. Immer wieder muss das Schild erneuert werden: Allzu anhängliche Fans montieren es mehrmals ab und schleppen es als Souvenir nach Hause.
Verheiratet ist sie in dieser Zeit bereits mit Jochen Böhm, einem Autor, der für das Kom(m)ödchen textet. Bis 2017 sind sie verheiratet, dann stirbt er in einem Pflegeheim in Wittlaer. Lous ist, um ihm nahe zu sein, ebenfalls in die dörfliche Ge- sen anderen Kneipen, in denen sie aufgetreten ist, verbittert sie dennoch nicht. Die Frau, die da in ihrem winzigen Apartment auf einem kleinen Sofa direkt neben dem Klavier sitzt und den Hund streichelt, strahlt eine große Zufriedenheit aus. Das kann an ihrem bewegten Leben liegen: Lous trat mit und neben Mr. Acker Bilk, dem Pasadena Roof Orchestra, Charly Antolini, Oscar Klein, Romano Mussolini, Ken Colyer, Monty Sunshine, Bob Haggat, Marty Grosz und nahezu allen internationalen Jazz-Größen auf. Ebenso mit der Bigband von Paul Kuhn, Willy Ketzer, Hugo Strasser, Bill Ramsey, Donna Hightower, Nancy Wilson, Tony Christie, Howard Carpendale und Heidi Brühl. Neben Gastspielauftritten war sie mit ihrer eigenen Band „Lous & The Groovies“ebenso unterwegs wie als Leadsängerin des Orchesters „Five & Six“. Über Geld redet sie heute nicht so gern – aber damals, sagt sie, sei sie pro Abend unter 1000 D-Mark nicht aufgetreten.
Gelernt hat sie den Gesang oder das Klavierspiel übrigens nie, aber die Musik liegt der Familie offenbar in den Genen: Mutter, Vater, Geschwister und Onkel waren im Jazz zu Hause, seit ihrer Kindheit lebt sie mit dieser Musik.
Ein Lieblingsinstrument? Ganz klar, das Saxophon. Beim sehr individuellen Sound bestimmter Saxophonisten bekommt sie eine Gänsehaut.
Und was mag sie gar nicht? Modern Jazz, sagt Lous, damit könne sie nichts anfangen. Sie brenne für den alten, den echten Jazz.
Morgen, vor dem Uerige, ab 15 Uhr, kann man sich davon überzeugen, wenn Frau Dr. Jazz, immerhin 71 Jahre alt, ihren Ruhestand kurz unterbricht.