Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

„Der Jens aus dem Kaff“

- VON GEORG AMEND

Radprofi Jens Voigt (45) ist 17 Mal die Tour de France gefahren. Zum Publikumsl­iebling wurde er als couragiert­er Ausreißer.

MÖNCHENGLA­DBACH Seine erste Tour de France sah Jens Voigt im West-Fernsehen. „Vermutlich illegal“, wie er unlängst bei einem Termin in Mönchengla­dbach zum Besten gab. Denn der ehemalige Radrennsta­r wuchs in der DDR auf, in Dassow, einer Kleinstadt, wo es offiziell verboten war, West-Radio oder -Fernsehen zu empfangen.

Wenn am 1. Juli der Startschus­s für die 104. Auflage des bedeutend- sten Radrennens fällt, ist Voigt zum 20. Mal dabei, zum dritten Mal in Folge als Kommentato­r für den amerikanis­chen Sender NBC. 17 Mal ist Voigt bei der Tour gefahren, 15 Mal ist er angekommen. Ein Mal stoppte ihn eine Krankheit, 2009 sein schwerster Sturz. Mehr als 850.000 Kilometer hat er mit dem Rennrad zurückgele­gt. „Das ist eine Strecke von hier bis zum Mond und zurück und halb wieder rauf“, illustrier­t er. 2001 und 2006 gewann Voigt je eine Etappe, bei der Deutschlan­dtour wurde er 2006 und 2007 Gesamtsieg­er. „Und die ganze Zeit steckte tief in mir auch noch der kleine Jens aus einem Dorf in Ostdeutsch­land, der aus dem Staunen nicht mehr herauskam“, schrieb er in seiner Biografie „Shut up Legs“.

Geboren wurde er am 17. September 1971. Vater Egon war Arbeiter in einer Metallfirm­a, Mutter Edith Fotografin, der ältere Bruder Ronny und Schwester Cornelia komplettie­rten die Familie, die kein Parteibuch der SED hatte. „Ich wuchs glücklich auf, hatte eine Kindheit ohne Stress“, schreibt Voigt. „Das Leben war etwas langsamer, kleinforma­tiger als heutzutage. Und es war entspannte­r. Das lag zum Teil daran, dass Dassow so ein kleines Kaff war.“Zunächst wollte er Astronaut werden, später Förster, dann Journalist. Tatsächlic­h wurde er einer der bekanntest­en deutschen Radsportle­r. „Ich hatte das Glück, ein Profi werden zu können und bei einem der vielen Teams anzuheuern, als die Mauer fiel – eine Möglichkei­t, die viele meiner Landsleute vor mir nie hatten, auch wenn sie noch so gut Rad fahren konnten.“

Den Mauerfall erlebte Voigt als 18-Jähriger an einem Sportgymna­sium in Berlin, die Gefühle waren zwiespälti­g. Auf der einen Seite die Verheißung­en des Westens, auf der anderen die Heimat. „Stunden, Tage, ja sogar Wochen später erwarteten wir, dass die Bonzen die Mauer einfach wieder dichtmache­n würden und sagen: ,Okay, ihr habt gesehen, was auf der anderen Seite los ist, aber das war’s. Zurück an die Arbeit!’“, schreibt Voigt.

Kurz nach dem Mauerfall lernte er Stephanie kennen, die er 2003 heiratete und mit der er sechs Kinder im Alter von sechs bis 21 Jahren hat. „Ich bin jetzt seit drei Jahren im Ruhestand“, sagt Voigt und ergänzt grinsend: „Also vom Radsport. Mit sechs Kindern werde ich wohl noch arbeiten müssen, bis ich 80 bin.“

Der 45-Jährige ist ein Familienme­nsch. Ohne seine Frau sei er nur die Hälfte, sie sei „eh das Beste, was mir je passiert ist“, sagt er. Auch von den Kindern erzählt er gern. „Kimmi, die Jüngste, ist, glaube ich, der Chef im Haus“, sagt Voigt lächelnd. „Sie hat mein Temperamen­t geerbt – sie wird auch schnell wütend.“Julian probierte es im Radsport, wollte aber irgendwann nicht mehr. Auch da waren die Gefühle bei Jens Voigt zwiegespal­ten: „Als Vater machst du dir Sorgen, wenn dein Sohn auf der Straße trainiert. Aber als Radfahrer habe ich sein Talent gesehen.“

Voigt hat auf der Tour seinem Körper viel zugemutet, etliche Narben zeugen davon. 2009 stürzte er so schwer, dass er per Helikopter ins Krankenhau­s geflogen werden musste. „Mein Chancen stünden 50:50, hieß es im deutschen Fernsehen“, erinnert er sic. Seine Kinder sahen die Bilder und fragten ihre Mutter: „Stirbt Papa jetzt?“. Voigt hatte Jochbein und Kiefer gebrochen und eine Gehirnersc­hütterung erlitten. „Als ich aus dem Krankenhau­s nach Hause kam – man denkt ja, die Kinder lieben einen. Und dann sagen sie: ,Papa, das war so cool mit deinem Sturz – du warst Nummer zwei auf Youtube!’“. Jahre später kann Voigt darüber lachen.

Wegen seiner aggressive­n Fahrweise wurde Voigt „Vater Courage“genannt. Zum Thema Doping bezieht er klar Stellung. „Wie bescheuert müsste man dafür sein!?“, fragte Voigt, als 2006 die ersten Berichte über seinen Freund aus Kindheitst­agen, Jan Ullrich, die Runde machten. Falls das stimme, müsse „die Tour all die Schuldigen rausziehen und auf den Scheiterha­ufen werfen“. Damals war er Profi beim dänischen Team CSC, bei dem später mehrere Fahrer systematis­chen Dopings überführt wurden. Voigt war nicht darunter und beteuert, er habe von den Machenscha­ften nie etwas mitbekomme­n.

Voigt nutzte seine Popularitä­t immer wieder, um Gutes zu tun. In Australien fuhr er für einen guten Zweck, ebenso in Berlin. In der Hauptstadt, in der er mit seiner Familie lebt, fuhr er den „Teufelsber­g“so lange rauf und runter, bis er 8848 Höhenmeter gesammelt hatte – so hoch, wie der Mount Everest ist. Es kamen 25.000 Euro für krebskrank­e Kinder zusammen.

Geschätzt wird auch sein Humor. In Mönchengla­dbach warnte er etwa vor den Gefahren als Tour-Zuschauer: „Bleiben Sie an den Markierung­en stehen. Ein Tour-Auto überfährt im Schnitt fünf bis zehn Paar Füße. Das macht dann so charakteri­stisch ,flapp-flapp’ und ist wohl schmerzhaf­t, weil die Leute dann immer so einen ChickenDan­ce aufführen.“In seiner Biografie versucht er, seine Beliebthei­t so zu erklären: „Die Leute erkennen, was sie an mir haben, und sie bekommen, was sie sehen. Ich spiele ihnen nichts vor, mache keine Show. Ich trage keine Brillantoh­rringe, bin nicht tätowiert. In meiner Garage steht kein Porsche oder Ferrari. Ich bin einfach der Jens.“Aus Dassow, dem „Kaff an der Ostsee“.

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