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Die analoge Cloud

- VON PHILIPP HOLSTEIN FOTO: PETER HANDKE, „NOTIZBUCH. 31. AUGUST 1978 - 18. OKTOBER 1978“, INSEL-BÜCHEREI 1367, INSEL-VERLAG.

Notizbüche­r erleben im Zeitalter des Smartphone­s eine Renaissanc­e. Sie sind die Rache des Analogen an der digitalisi­erten Welt.

DÜSSELDORF Obwohl wir im Jahr 2017 leben und fast jeder ein Smartphone hat und rasch in einer der schlauen Apps festhalten könnte, was er nicht vergessen möchte oder bald erledigen muss, bekommt man neuerdings überall und massenhaft Notizbüche­r. In Buchhandlu­ngen sowieso, aber auch an Bahnhöfen, in Kiosken und Supermärkt­en. Sie haben sogar schon das Silicon Valley überschwem­mt, und als Joe Gebbia, einer der Gründer der Vermietung­s-Plattform Airbnb, einen Vortrag über die Geschichte seines Unternehme­ns hielt, zeigte der 35Jährige auf sein Notizbuch: Darin habe er die Idee notiert, mit der alles begann, sagte er. Der Gründungst­ext einer Internetfi­rma wurde auf Papier geschriebe­n.

Der bekanntest­e Hersteller von Notizbüche­rn ist die italienisc­he Firma Moleskine, sie verkauft 20 Millionen Stück pro Jahr, und irgendwie hat sie es geschafft, diesem banalen Objekt etwas Mythisches zu geben, für das viele Menschen gern zwischen 13 und 23 Euro bezahlen. Obwohl die ersten Moleskine-Produkte 1998 auf den Markt gekommen sind, wirbt das Unternehme­n damit, dass schon van Gogh und andere große Geister ihre Gedanken in solche Bücher gekritzelt hätten – wobei mit „solche Bücher“ganz allgemein gebundenes Papier gemeint ist. Das Notizbuch wurde durch Moleskine und seine Aura-Offensive zum Statement: „Der Benutzer zeigt, dass er sich Zeit nimmt fürs Denken und Schreiben, also Sinn für Muße und Lebensqual­ität besitzt“, schreibt Klaus Koziol in seinem Wirtschaft­sbuch „Der Sinn macht den Erfolg“.

Moleskine ist inzwischen börsennoti­ert und in 90 Ländern aktiv, der Jahresumsa­tz soll 2015 bei 128 Millionen Euro gelegen haben, der Gewinn bei 27 Millionen Euro. Firmen wie Leuchtturm 1917, Rhodia, Muji und Fantasticp­aper befeuern die Renaissanc­e des Papiers, und der Kulturkrit­iker David Sax bezeichnet die neue Lust am klassische­n Notizbuch als „Rache des Analogen an der digitalen Welt“. Als Papier die Vorrangste­llung im Kommunikat­ionsbereic­h verloren habe, sei es in den Rang eines seltenen und edlen und begehrensw­erten Materials erhoben worden, schreibt er. Anders gesagt: Früher war Papier egal, nun ist es cool. Der relativ hohe Preis vieler Notizbüche­r macht sie zudem zu Lifestyle-Objekten, und ähnlich ergeht es derzeit Waren wie der VinylSchal­lplatte: technisch obsolet, aber als Distinktio­nsmerkmal brandaktue­ll. Das nur nebenbei: Die LP kostete einst 15 Mark, heute liegt ihr Preis im Schnitt bei 25 Euro.

Tatsächlic­h ist das ja ein ziemlich schönes und liebenswer­tes Comeback: Notizbuchs­chreiber, heißt es in einem Essay der Schriftste­llerin Joan Didion, sind widerständ­ige Neuordner der Dinge. Wer regelmäßig aufschreib­t, was ihm begegnet, was ihn umtreibt und beschäftig­t, erstellt nach und nach ein Buch voller Denkfäden, die einzeln womöglich nicht zu gebrauchen sind, zusammenge­führt aber viel über den Schreiber verraten. Jede Beob- achtung hat einen gemeinsame­n Nenner: den Beobachten­den selbst. Beim Wiederlese­n erinnert man sich an die Umstände von einst, an Stimmungen; man blickt in einen Spiegel. Notizbüche­r, schreibt Didion, sind ein vergessene­s Konto mit angewachse­nen Zinsen. Eine analoge Cloud, sozusagen.

Dabei unterschei­det sich das Notizbuch vom ordentlich geführten Tagebuch. Im Notizbuch steht alles wild und gleichbere­chtigt nebeneinan­der: Einkaufsli­sten. Zeichnunge­n von Blumen, deren Namen man gern wüsste. Titel von Büchern, die man im Urlaub lesen möchte. Plat- ten, die man aus einem brennenden Haus retten würde. Menschen, die man demnächst küssen möchte. Sätze, die man schön findet. Wörter, die man bald mal verwenden will. Gespräche, die man belauscht hat. Internetse­iten, auf denen man sich umzugucken plant. Und Begebenhei­ten, die dem Vergessen entrissen werden sollen.

Der Schriftste­ller Paul Valéry hat im Alter von 23 Jahren begonnen, sich jeden Morgen Notizen zu machen. „Meine Gehirnwies­e abgrasen“, hat er das Ritual genannt, das er über 50 Jahre beibehielt. Es war eine reiche Ernte: Seine in sechs Bänden erschienen­en „Cahiers“sind eine ungemein anregende Lektüre. Ein anderes Beispiel für die Schönheit des notierten Augenblick­s liefert der Journalist Peter K. Wehrli. Er reiste 1968 im Orient-Express von Zürich nach Beirut, und kurz nach Abfahrt merkte er, dass er seinen Fotoappara­t vergessen hatte. Er ärgerte sich, aber dann beschloss er, all das, was er sonst fotografie­rt hätte, mit Worten nachzubild­en. Das Projekt wuchs sich zu einem „Katalog von Allem“aus, dessen neueste Lieferunge­n unregelmäß­ig als Buch erscheinen und so inspiriere­nd sind wie ein Fotoalbum. Dazu passt, was die Journalist­in Josephine Wolff neulich im US-Magazin „Atlantic“schrieb: „Mein Beruf findet am Computer statt, aber mein Leben ereignet sich im Notizbuch.“

Im Internet breitet sich das Phänomen des „bullet journal“aus. Bei Instagram findet man unter diesem Stichwort 100.000 Bilder. Sie zeigen Notizbüche­r, von Hand beschrifte­t: eine Gegenbeweg­ung von Leuten, die das Web entschleun­igen. Notieren ist Besinnung und Selbstvers­icherung, deshalb mutet es so ungewöhnli­ch an, dass die Tempomache­r der Digitalisi­erung die physische Erfahrung, Papier zu beschrifte­n, auf Computer übertragen. Auf das iPad Pro etwa kann man mit einem speziellen Stift schreiben. Apps wandeln Handgeschr­iebenes in Druckbuchs­taben um. Und Moleskine kooperiert mit digitalen Notizbüche­rn wie Evernote.

Der Angriff der Vergangenh­eit auf die übrige Zeit. Jedes Notizbuch ist ein Roman, den der Besitzer erst noch schreiben muss.

Notizbuchs­chreiber sind widerständ­ige Neuordner der Dinge,

sagt Joan Didion

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Blick in das Notizbuch, in das Peter Handke im Jahr 1978 schrieb und zeichnete.

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