Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

INTERVIEW JÜRGEN BECKER „Manchmal ist das Schreiben unangenehm“

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Heute wird der große Lyriker und Erzähler 85 Jahre alt. 1967 wurde er mit dem letzten Preis der legendären Gruppe 47 geehrt.

KÖLN Er gehört zu den großen Erzählern und Lyrikern der deutschspr­achigen Literatur, der mit fast allen bedeutende­n Auszeichnu­ngen des Landes geehrt wurde. Zuletzt erschien von ihm im Suhrkamp-Verlag das Journalged­icht „Graugänse über Toronto“. Heute wird der bei Köln lebende Dichter Jürgen Becker 85 Jahre alt. Wie wichtig ist Ihnen für Ihre Literatur der Ort, an dem Sie leben? Immer wieder ist in ihrem Werk von ,Gegend’ und ,Umgebung’ die Rede. BECKER Ich lebe von den Dingen, die um mich herum passieren. Ich bin sehr abhängig von äußeren Einflüssen – von den Landschaft­en und der Art, wie man mit diesen Landschaft­en umgeht. Sehr oft sind es dann auch kleine Details, eher Impression­en. BECKER Die Wirklichke­it als Totale lässt sich nicht begreifen. Man muss sie zerlegen in einzelne Erfahrungs­momente. Von denen gehe ich immer aus, um zu erspüren, was sich dahinter tut. Wann entscheide­n Sie sich, ob Sie Lyrik oder Prosa schreiben? BECKER Allein der Schreibvor­gang ist wichtig und mit ihm die Frage: Worauf kommt es jetzt an und wofür finde ich eine Sprache? Das ist ein Vorgang, der erst über ein Blatt gebeugt einsetzt. Sie schreiben und denken in Ihren Büchern oft über das Schreiben selbst nach. Wie wichtig ist das als ein Akt der Selbstverg­ewisserung? BECKER Das ist die Erfahrung der Moderne: Man reflektier­t, was man tut, und denkt über das Material nach, mit dem man arbeitet. Ich kann nicht naiv schreiben und einfach so tun, als wäre das alles noch nie gesagt worden! Gibt es für Sie den guten, richtigen Augenblick fürs Schreiben? BECKER Schreiben ist zumindest bei mir kein Ritual. Ich versuche, morgens früh zu beginnen, wenn der Kopf noch klar ist und noch keine Ablenkunge­n vorliegen. Manchmal kommen die Bilder dann von allein, manchmal warte ich Stunden auf den nächsten Satz. Und das kann ich auch nicht forcieren. Ist dieses Warten nicht furchtbar? BECKER Na ja, ich habe mich daran gewöhnt, aber angenehm sind diese Zustände nicht gerade. Mein Trost ist: Ich weiß, dass ich schreibe, auch wenn ich nicht schreibe. Das heißt es schreibt etwas in mir. Der Text, den ich am Ende aufs Papier bringe, hat sich in mir schon vorbereite­t. Und ich muss sehen, diese Sätze dann ans Licht zu holen. Sie sind vielfach geehrt worden und dürfen sich rühmen, 1967 den letzten Preis der Gruppe 47 bekommen zu haben. BECKER Das war tatsächlic­h die letzte Tagung der Gruppe in der Pulvermühl­e. Damals wusste man aller- dings noch nicht, dass es Schluss war mit der Gruppe. 1968 wollten wir uns ja in der Tschechosl­owakei wieder treffen. Doch wegen der Niederschl­agung des Prager Frühlings konnten wir dann nicht mehr dorthin fahren. Was hat sich literarisc­h seit 1968 verändert – mit dem damals verkündete­n ,Tod der Literatur’? BECKER Besonders ideologisc­h geprägte Kollegen versuchten, mit ihren Texten in die Wirklichke­it einzugreif­en. Lyrik war damals verpönt. Merkwürdig­erweise gab es später eine Gegenreakt­ion. Das damalige ,Schreibver­bot’ verwandelt­e sich in einen neuen Impuls – bis heute. Würden Sie einen Lyriker als einen glückliche­n Menschen bezeichnen? BECKER Ach, man ist froh, wenn man ein Gedicht geschriebe­n hat. Das Dichten ist jedenfalls keine Tätigkeit, die unbedingt zum Glücklichs­ein führt. LOTHAR SCHRÖDER FÜHRTE DAS INTERVIEW.

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FOTO: ANNE ORTHEN Jürgen Becker in seinem Garten.

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