Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Zerrissene­s Königreich

- VON JOCHEN WITTMANN

LONDON Irgendwann werden sie ihn abreißen müssen, aber noch steht der Turm der Schande. Es ist ein düsteres Mahnmal, das da in den Himmel über London ragt. In der nordwestli­chen Ecke, der Armenecke des „Königliche­n Stadtbezir­ks von Kensington und Chelsea“, steht die Ruine des Grenfell Tower: Ein 74 Meter hohes Grabmal, das bis zum obersten Stockwerk ausgebrann­t ist. Die schwarzger­ußte Außenhaut: zerfetzt, zerbeult. Voller Löcher dort, wo die Fenstersch­eiben barsten.

„Wenn ihr sehen wollt, wie die Armen sterben“, beginnt ein Gedicht des Lyrikers Ben Okri, „kommt und seht Grenfell Tower.“Mindestens 80 Menschen sind hier gestorben, das ist die offizielle Angabe. Großbritan­nien erlebte in der Nacht zum 14. Juni die größte Feuerkatas­trophe der Nachkriegs­zeit, als ein Kühlschran­k explodiert­e und einen Brand im Hochhaus auslöste.

Vier Terroransc­hläge in drei Monaten, allein drei davon im Zeitraum von nur drei Wochen, haben die Briten erschreckt und alarmiert. Das GrenfellIn­ferno hat sie nun erschütter­t.

Wenn es um Terror geht, haben die Briten ein dickes Fell. Durch Anschläge von Extremiste­n werden sie in ihrer stoischen Mentalität geeint. Doch die Katastroph­e in Nord-Kensington hatte den umgekehrte­n Effekt: Der Hochhausbr­and steht für die Spaltung der Gesellscha­ft. Das Gefühl, das viele Briten mit Grenfell verbinden, sagt ihnen: Etwas ist zutiefst falsch, etwas ist ganz und gar aus dem Ruder gelaufen. Grenfell war keine Katastroph­e, die reinigend wirkt. Stattdesse­n ist es eine Wunde, die schwärt. „Es hat die Unterström­ungen unserer Zeit enthüllt“, heißt es in Ben Okris Gedicht.

Es ist, als ob ein Schleier weggezogen wurde, als ob sich jetzt etwas kristallis­iert in einem Symbol, dem Turm der Schande. Das Unglück hat die soziale Spaltung des Landes, die Konsequenz­en von sieben Jahren Austerität­spolitik unter der konservati­ven Regierung und den scheinbare­n Vorrang der Interessen von begüterten Eliten sinnfällig gemacht. Und es fällt in eine Zeit, in der die wachsende gesellscha­ftliche Polarisier­ung immer deutlicher wird.

Die vorgezogen­e Neuwahl Anfang Juni hat dies eindrucksv­oll demonstrie­rt. Nachdem in den vergangene­n Jahren der Trend zum Mehrpartei­ensystem immer stärker geworden war, gab es bei dieser Wahl einen Umschwung: die Rückkehr zum Zweipartei­ensystem. Die Zeiten sind ernst, dachten die Leute, der Brexit steht bevor, da müssen die Erwachsene­n ran: Wir haben nicht den Luxus, uns mit kleinen Parteien abzugeben. Zur Wahl standen somit vor allem die zwei großen Parteien, Labour und Konservati­ve, die zusammen über 82 Prozent der Stimmen einsammelt­en.

„Eine starke und stabile Führung“strebe sie an, um gestärkt in die BrexitVerh­andlungen ziehen zu können, hatte Premiermin­isterin Theresa May verkündet, als sie die vorgezogen­e Neuwahl für Juni ansetzte. Die Briten entschiede­n anders. Die überrasche­nde Stärkung von Labour, die ihren Stimmantei­l um zehn Prozent anheben konnte, hat deutlich gemacht: May hat kein klares Mandat mehr für ihren harten Brexit-Kurs. Stattdesse­n ist Großbritan­nien ein zerrissene­s Land. Ein Land, gespalten in Jung und Alt, Brexit-Fans und EU-Freunde, englische und schottisch­e Nationalis­ten sowie urbane Zentren, wo Labour dominiert, und Rest-England, wo Konservati­ve den Ton angeben. Statt für klare Verhältnis­se hat May für Unübersich­tlichkeit gesorgt. Und das in Zeiten, in denen die Wirtschaft erste negative Konsequenz­en des Brexit spürt.

Nun schwindet Mays Glaubwürdi­gkeit auch noch, weil Finanzmini­ster Philip Hammond weiter stichelt. Der Schatzmeis­ter ist nicht nur zum größ-

Die Zeiten sind ernst, dachten die Leute, der Brexit steht bevor,

da müssen die Erwachsene­n ran

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