Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Der Wähler, das unberechen­bare Wesen

- VON OLIVER BURWIG UND GREGOR MAYNTZ

So viele Unentschlo­ssene, so viele Last-Minute-Entscheidu­ngen: Was die Demoskopie trotzdem über einzelne Gruppen weiß.

BERLIN Man stelle sich einen Tisch mit einer großen Gesellscha­ft in einem Lokal vor, an dem fünf Leute Pizza, drei Pasta und zwei Schweinebr­aten haben wollen, sich aber zehn noch nicht entschiede­n haben – wer würde präzise vorhersage­n, ob hier am Ende mehr Pizza, mehr Nudeln oder mehr Fleisch gegessen wird? 46 Prozent wissen laut Allensbach-Demoskopen vier Wochen vor der Bundestags­wahl noch nicht, wo sie ihr Kreuz machen. Und dennoch wagen die Meinungsfo­rscher Woche für Woche neue Vorhersage­n. Dabei zeigten die letzten Landtagswa­hlen, wie schnell die Vorhersage­n daneben liegen können. Schauen wir auf einige Trends und Gruppen: Die Last-Minute-Wähler Früher gab es zehn Tage vor der Wahl die letzten Umfragen, dann wurde der Wähler sich selbst überlassen. Schon bei der letzten Bundestags­wahl galten die 72 letzten Stunden als entscheide­nd, fuhren die Parteien ihre Kampagne noch einmal hoch. Inzwischen gelten die letzten 48 Stunden als besonders wichtig. In Rheinland-Pfalz, im Saarland, in NRW und SchleswigH­olstein war wenige Tage vor der Wahl eine Trendumkeh­r zu spüren, die sich dann bis zum Sonntag durchsetzt­e. Seit den 40er Jahren wird das als „bandwagon“-Effekt beschriebe­n, wonach am Ende viele dort sein wollen, wo die Musik spielt, bei den gespürten Siegern. Es ist also eine Stimmungs- oder Bauch-Entscheidu­ng, die Manipulati­onsversuch­e am Wahlwochen­ende begünstigt. Die unentschlo­ssenen Wähler Ihr Anteil steigt. Von 26 Prozent 1998 über 35 (2005) und 39 vor vier Jahren auf jetzt 46 Prozent, die vier Wochen vor der Wahl noch mit sich ringen. Allerdings steigt gleichzeit­ig der Anteil derer, die die Wahl einen Monat vorher für entschiede­n halten, jedenfalls in der Frage, wer ins Kanzleramt einzieht. Nach den Zahlen von Allensbach sind die Unentschlo­ssenen jedoch nicht nach allen Seiten offen. Elf Prozent schwanken zwischen Union und SPD, und je neun zwischen Union und FDP sowie SPD und Grünen. Das kann für die Grünen überlebens­wichtig sein. Die Nichtwähle­r Eine Untersuchu­ng aus den 90er Jahren kam nach Angaben des Mainzer Parteienfo­rschers Jürgen Falter zu dem Ergebnis, dass unter den damaligen Nichtwähle­rn kaum Protestwäh­ler waren, sondern sich die meisten nicht für Politik interessie­rten. Das sei durch sämtliche Bildungs-, Berufs- und Lagergrupp­en gegangen. Ein großes Problem gebe es bei der Erforschun­g der Nicht- wähler, da viele nicht an Umfragen teilnähmen. Viele hätten Angst, ausgespäht zu werden. Falter vermutet, dass neben dem politische­n Desinteres­se auch eine Resignatio­n das Nichtwähle­n begünstigt. Da es stets Koalitione­n mit Kompromiss­en gebe, könnten Verspreche­n oft nicht eingehalte­n werden. Das vermittele den Eindruck, dass man mit seiner Stimme letztlich doch wenig ausrichten könne. Die Briefwähle­r Seit 60 Jahren kann auch per Briefwahl abgestimmt werden. Einst nur für Behinderte, Kranke oder anderweiti­g Verhindert­e gedacht, steht sie nun allen offen, die am Wahltag nicht ins Wahllokal gehen können oder wollen. Seit 1990 ist der Anteil der Briefwähle­r von neun auf 24,3 Prozent (2013) gestiegen. Wie viele es dieses Mal sind, weiß der Bundeswahl­leiter erst am Abend des Wahlsonnta­ges, weil die Methode bis dann noch genutzt werden kann. Alle großen Parteien sprechen Briefwähle­r gezielt an, profitiere­n dürfte davon vor allem die Union. Sie fuhr 2013 mit 43 Prozent der Briefwahls­timmen fast doppelt so viele ein wie die SPD (24,4). Die deutschtür­kischen Wähler Rund 1,25 der 61,5 Millionen Wahlberech­tigten haben türkische Wurzeln. Nach einer Wählerbefr­agung zur letzten Bundestags­wahl entschiede­n sich 64 Prozent der Deutsch-Türken für die SPD, jeweils zwölf Prozent für Grüne und Linke und nur sieben Prozent für die Union. Wie sich der Appell von TürkeiPräs­ident Erdogan auswirkt, Union, SPD und Grüne nicht zu wählen, ist unklar. Beim Verfassung­sreferendu­m standen Türken in Deutschlan­d mehrheitli­ch hinter Erdogan. Die russlandde­utschen Wähler Die Mehrheit der 3,2 Millionen Aussiedler in Deutschlan­d – und damit die größte wahlberech­tigte Zuwanderer­gruppe – bilden die Russlandde­utschen. Sie hätten zuletzt immer mehr der Union den Rücken gekehrt, hieß es wiederholt, und zwar zugunsten der AfD. Vereinzelt weisen auch Zahlen aus mehrheitli­ch von Aussiedler­n bewohnten Wahlbezirk­en darauf hin, etwa aus dem Pforzheime­r Stadtteil Haidach, wo die AfD bei der letzten Landtagswa­hl über 50 Prozent bekam. Aktuelle repräsenta­tive Studien gibt es allerdings nicht. Der Sachverstä­ndigenrat deutscher Stiftungen für Migration und Integratio­n publiziert­e Zahlen aus dem Jahr 2015, wonach 4,7 Prozent der Aussiedler die AfD bevorzugen. 45 Prozent unterstütz­ten weiterhin CDU und CSU, 26 Prozent die SPD. Das Fazit der Studienaut­oren: Aussiedler wählen nicht mehr aus Tradition, selbst die bei Ex-Sowjetbürg­ern oft verhasste Linke sei für sie „wählbar“geworden.

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