Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Niels H. – ein deutscher Massenmörd­er?

- VON IRENA GÜTTEL UND JÖRG ISRINGHAUS

Vor zwei Jahren wurde der Ex-Krankenpfl­eger wegen Mordes in zwei Fällen verurteilt. Gestern gaben die Ermittler bekannt, dass H. weitere 84 Morde zur Last gelegt werden.

OLDENBURG Frühere Kollegen beschriebe­n ihn vor Gericht als hilfsberei­t und zupackend. Doch gab es auch Gerede um den Krankenpfl­eger Niels H. Bei Wiederbele­bungen habe er sich in den Vordergrun­d gespielt, und während seiner Schichten starben auffällig viele Patienten. Wie viele davon Niels H. selbst auf dem Gewissen haben könnte, wird erst allmählich klar. Laut Polizei soll H. für die größte Mordserie in der deutschen Nachkriegs­geschichte verantwort­lich sein.

Im Februar 2015 verurteilt­e das Landgerich­t Oldenburg Niels H. wegen zweifachen Mordes, zweifachen Mordversuc­hs und gefährlich­er Körperverl­etzung an Patienten in der Klinik Delmenhors­t zu lebenslang­er Haft. Schon damals hatte H. bis zu 90 Taten gestanden. Gestern gaben Ermittler bekannt, dass der heute 40-Jährige neben den Morden, für die er bereits verurteilt wurde, mindestens 84 Menschen an den Kliniken in Oldenburg und Delmenhors­t in Niedersach­sen umgebracht haben soll.

Niels H. hatte gestanden, Patienten eine Überdosis eines Herzmedika­ments gespritzt zu haben, um sie anschließe­nd wiederbele­ben zu können. Damit wollte er sich vor Kollegen als heldenhaft­er Retter beweisen. Das Hochgefühl habe danach nur kurz angehalten, sagte H. vor Gericht. Er habe sich dann neue Opfer gesucht.

Die sterbliche­n Überreste von mehr als 130 früheren Patienten der beiden Kliniken ließ die Sonderkomm­ission ausgraben und auf Rückstände von Medikament­en testen. „Die Erkenntnis­se, die wir dabei gewinnen konnten, erschrecke­n noch immer – ja, sie sprengen jegliche Vorstellun­gskraft“, sagte Oldenburgs Polizeiprä­sident Johann Kühme.

Bei 48 Patienten in Delmenhors­t und 36 in Oldenburg wurden die Ermittler fündig. Bei 41 Toten stehen die Ergebnisse der toxikologi­schen Untersuchu­ng noch aus. Die tatsächlic­he Zahl der Verbrechen von Niels H. liege aber um ein Vielfaches höher, sagte Soko-Leiter Arne Schmidt. „Die Morde, die wir belegen können, sind nur die Spitze des Eisberges.“Allein am Klinikum Delmenhors­t seien mehr als 130 Patienten, die während einer Schicht von Niels H. starben, eingeäsche­rt worden. Ein Nachweis sei bei ihnen nicht mehr möglich.

In Verhören im Gefängnis hat Niels H. die Taten in Delmenhors­t und Oldenburg eingeräumt. Offen bleibe, ob er im vollen Umfang geständig sei und ob er sich überhaupt an alle Taten erinnern könne, sagte Schmidt. So bestreite Niels H., dass er auch Patienten an anderen Arbeitsstä­tten eine Überdosis gespritzt habe. Diesen Verdacht wür- den aber Zeugenauss­agen nahelegen. Die Patienten starben in diesen Fällen aber nicht.

Fest steht nach Ansicht der Ermittler, dass ein großer Teil der Morde hätte verhindert werden können. Schon am Klinikum Oldenburg gab es eine Statistik, die zeigte, dass während der Schicht von Niels H. die Sterberate und die Zahl der Reanimatio­nen stieg. Diese Statistik sei auch der Geschäftsf­ührung bekannt gewesen, sagte Schmidt. Wären die Verantwort­lichen damals schon zur Polizei gegangen, wäre es zu den Morden an der späteren Arbeitsste­lle in Delmenhors­t nicht gekommen, betonte Schmidt.

Stattdesse­n trennte sich das Klinikum Oldenburg von dem verdächtig­en Pfleger und stellte ihm sogar ein gutes Arbeitszeu­gnis aus. Eine Warnung an das Klinikum Delmenhors­t blieb aus. Auch am Klinikum Delmenhors­t gab es bald Gerüchte, weil auffällig viele Patienten während der Schicht von Niels H. starben. Später lagen auch handfeste Beweise vor: Zwei frühere Oberärzte und der Stationsle­iter werden deshalb wegen Totschlags durch Unterlasse­n vor Gericht stehen. Die Ermittlung­en gegen Verantwort­liche am Klinikum Oldenburg laufen noch.

Von einem großen Versagen sprach die Deutsche Stiftung Patientens­chutz. Tätern würde es in Krankenhäu­sern immer noch zu leicht gemacht, teilte Vorstand Eugen Brysch mit. Anonyme Informante­n müssten ihre Beobachtun­gen einer unabhängig­en und externen Stelle melden können, ohne Angst vor Konsequenz­en zu haben. Notwendig seien auch amtsärztli­che Leichensch­auen, eine umfassende Sterbestat­istik und eine exakte Kontrolle der Medikament­enausgabe in allen Krankenhäu­sern und Pflegeheim­en, forderte Brysch. „Zudem gilt es, eine Kultur des Hinschauen­s auf allen Ebenen im Krankenhau­s zu verankern“, sagte er. Im Fall Niels H. hätten Kollegen, Arbeitgebe­r, aber auch Polizei und Justiz zu lange weggeschau­t.

Bundesgesu­ndheitsmin­ister Hermann Gröhe (CDU) reagiert bestürzt auf die neuen Vorwürfe. Er warnte zugleich davor, von diesem Fall auf grundlegen­de Missstände in Krankenhäu­sern zu schließen, sagte er der „Nordwest-Zeitung“. „Ich warne vor einem Generalver­dacht gegen all unsere Pflegerinn­en und Pfleger, die sich tagtäglich für andere einsetzen – hier geht es um ein geplantes Verbrechen eines Einzelnen“, so der CDU-Politiker.

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