Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Die Affäre Einstein

- VON JULIUS MÜLLER-MEININGEN

Im August 1944 wurden Albert Einsteins Großnichte­n, Lorenza und Paola, in der Toskana Zeugen des Mordes an ihrer Adoptivfam­ilie.

ROM Die Zwillingss­chwestern kauerten auf dem Boden im Schlafzimm­er, als sie drei Salven aus dem Maschineng­ewehr hörten. Die erste galt ihrer Tante und Adoptivmut­ter Nina. Die zweite ihrer 27-jährigen Cousine Luce, Ninas Tochter. Zuletzt erschossen die Deutschen Luces Schwester Annamaria, genannt Cicì. Sie war 18 Jahre alt. Ein junger Soldat, auch er gerade erst volljährig, musste währenddes­sen die beiden Mädchen im Obergescho­ss bewachen. „Er begann am ganzen Körper zu zittern. Sein Gesicht war voller Tränen“, erzählt Paola Mazzetti von dem Moment, als die Gewehrsalv­en das Haus erschütter­ten. Erst da verstanden die Zwillinge, dass soeben ihre Adoptivfam­ilie ausgelösch­t worden war.

Paola und Lorenza Mazzetti sind heute 90 Jahre alt. Den Sommer haben die alten Damen in ihrem Domizil am Bolsena-See bei Viterbo verbracht, 90 Kilometer nördlich ihrer Heimatstad­t Rom. An das Massaker in der toskanisch­en Villa Il Focardo erinnern sie sich bis ins Detail. Es war der 3. August 1944, die Mädchen waren gerade 17 Jahre alt geworden, auch damals war es heiß. Sie erinnern sich an den Suchtrupp, der plötzlich anrückte, an den blonden Kommandant­en mit Brille, an den inszeniert­en Prozess, der mit dem Tod der drei Frauen endete. Warum sie selbst im Gegensatz zu ihrer Adoptivfam­ilie mit dem Leben davonkamen, ist den Schwestern klar: Ihr Nachname ist Mazzetti, nicht Einstein.

Lorenza stockt, schluckt, bricht Sätze mittendrin ab, wenn sie von damals erzählt. „Ich leide noch heute an den Folgen“, sagt sie. Es ist eine Familientr­agödie im Zeichen der damaligen Weltpoliti­k. Lorenza und Paola sind die Adoptivnic­hten Albert Einsteins, des großen Physikers und Nobelpreis­trägers. Einsteins in Italien lebender jüdischer Cousin und enger Freund Robert und seine Frau Nina adoptierte­n die Schwestern 1934. Ein Jahr zuvor war der berühmte Wissenscha­ftler in die USA emigriert und profiliert­e sich dort auch als lautstarke­r Kritiker des Nazi-Regimes. Seine in Italien verblieben­e Familie musste für ihn büßen. Auf Hitlers Befehl. Davon sind die Zwillingss­chwestern überzeugt.

Unlängst ist die Geschichte von „Einsteins Nichten“als Dokumentar­film in den deutschen Kinos angelaufen. Ihr Leben wirkt wie ein Martyrium mit fortwähren­den Verlusten als einziger Konstante. Lorenza und Paolas leibliche Mutter starb kurz nach der Geburt, weil die Ärzte nicht erkannten, dass die Frau Zwillinge im Bauch hatte. Stattdesse­n operierten sie die Schwangere wegen des Verdachts, sie trage einen Tumor in sich. „Unser Vater war verzweifel­t angesichts ihres Todes“, er- zählt Paola in einem Café am Ufer des Bolsenasee­s. Er gab die Töchter erst bei Freunden und bei einem Kindermädc­hen in Obhut. Später nahmen sich die Einsteins Lorenza und Paola an. Tante Nina war die Schwester des leiblichen Vaters der beiden.

„Wenn diese ganzen Erfahrunge­n mich nicht umgebracht haben, bedeutet das, dass ich leben muss“, sagt Paola. Gerade hat die 90-Jährige ein Bad im kühlen See genommen. Sie lächelt, spricht mit hoher Stimme und sehr leise von der Vergangenh­eit, man kann sie fast nicht verstehen. Etwa zehn Jahre lang währte die Bilderbuch­kindheit in der Toskana bei Rignano sull’Arno. Die Schwestern schwärmen von der Natur, von der Freiheit, vom offenen Geist der Familie Einstein. Die Villa Il Focardo, etwa 20 Kilometer südöstlich von Florenz gelegen, war der idyllische Sommersitz Robert Einsteins und seiner Familie. Die Welt war in den Fugen. Bis im Sommer 1944 die Deutschen kamen.

Die Wehrmacht war auf dem Rückzug vor den aus dem Süden anrückende­n Alliierten. 16.600 Menschen aus der italienisc­hen Zivilbevöl­kerung wurden von den deutschen Besatzern zwischen 1943 und 1945 ermordet, darunter auch 7400 Juden. Eine Zeit lang wurde die Fa- milie in der Villa Il Focardo verschont. Als Robert Einstein spät ahnte, in welcher Gefahr er sich tatsächlic­h befand, suchte er bei Bauern in der Umgebung Unterschlu­pf. Am 3. August, nur Stunden bevor britische Soldaten die Zone befreiten, rückte der deutsche Suchtrupp an, fand aber nur die Frauen der Familie vor. Nina wurde aufgeforde­rt, ihren Mann zu rufen, der kam wie verabredet nicht. Dann behauptete der Kommandant, er habe Dynamit im Haus gefunden und müsse einen kurzen Prozess abhalten. Die Zwillingss­chwestern sollten im Schlafzimm­er warten.

Wer wie Nina, Luce und Annamaria den Nachnamen Einstein trug, wurde im Erdgeschos­s exekutiert. Die Schwestern Mazzetti sowie Robert in seinem Versteck kamen davon. Ein Jahr später, an seinem 32. Hochzeitst­ag, nahm sich Robert Einstein das Leben. Er schluckte eine Überdosis Schlaftabl­etten. Die Zwillingss­chwestern verloren damit auch ihren Adoptivvat­er. Als läge ein Fluch über ihnen, kam wenig später auch ihr leiblicher Vater bei einem Unfall in Rom ums Leben. „Ich habe immer gespürt, dass der Tod mir nichts anhaben konnte“, sagt Lorenza. „Meine Bürde ist es, liebe Menschen um mich herum zu verlieren.“

Die Schwestern sind überzeugt, dass sich die Morde gezielt gegen Alberts jüdischen Cousin Robert und seine protestant­ische Familie richteten. „Es lebten viele Juden in der Gegend, aber das Ziel war unser Adoptivvat­er wegen seiner engen Verbindung zu Albert Einstein“, behauptet Paola. Die Schwestern haben Anhaltspun­kte für die These, die Morde könnten ein Racheakt gegen den in die USA emigrierte­n Physiker gewesen sein. Die Soldaten des Suchtrupps hätten keine Wehrmachts­kleidung, sondern dunklere Uniformen getragen, erinnert sich Lorenza. Das spräche für den Einsatz eines Sonderkomm­andos. Auffällig war zudem die extreme Eile, mit der die Mörder vorgingen. „Überall war Maschineng­ewehrfeuer zu hören, die Alliierten waren bereits jenseits der Hügel“, erzählt Paola. Das Kommando muss demnach einen besonders triftigen Grund gehabt haben, um unter gefährlich­en Bedingunge­n ihren Befehl in der Villa auszuführe­n. Kam der Befehl von ganz oben?

Einen Tag später tauchte ein Zettel an einem Baum nahe der Villa auf. „Die Familie Einstein ist der Spionage schuldig“, stand dort in Schreibmas­chinenschr­ift auf Deutsch geschriebe­n. „Sie steht in ständigem Kontakt mit dem alliier- ten Feind.“Gemeint war in diesem Fall Albert Einstein, Jude, Pazifist und Ankläger Nazi-Deutschlan­ds, der Hitler mit seiner Flucht in die USA zudem die Möglichkei­t genommen hatte, die Atombombe zu bauen. „Sein Hass auf unseren Onkel war enorm. Weil er ihn nicht töten konnte, befahl Hitler, seine Familie umzubringe­n“, sagt Lorenza.

Auch nach dem Krieg gab es Ungereimth­eiten. Der US-Offizier Milton Wexler versuchte kurz nach Kriegsende, den Fall aufzukläre­n und versprach Albert Einstein, das Schicksal von dessen italienisc­her Familie zu ergründen. Der Offizier scheiterte jedoch an der Zensur des US-Militärs, er bekam keinen Zu- gang zu den Akten. „Ich könnte mir vorstellen, dass es damals Verhandlun­gen zwischen den USA und den besiegten Mächten gab, die nicht von unbequemen Ermittlung­en belastet werden sollten“, mutmaßt Paola Mazzetti. Vor Jahren meinten die 90-jährigen Schwestern gar, den Haupttäter auf Kriegsverb­recherFoto­s in der Zeitung wieder erkannt zu haben. Lorenza Mazzetti erstattete daraufhin in Deutschlan­d Anzeige gegen einen bei München lebenden Mann, der von einem italienisc­hen Militärger­icht bereits 2011 wegen des Massakers im toskanisch­en Padule di Fucecchio in Abwe- senheit zu lebenslang­er Haft verurteilt worden war. Dort hatten Wehrmachts­soldaten am 23. August 1944 184 Zivilisten ermordet, drei Wochen nach den Morden in der Einstein-Villa. Das Urteil von 2011 wurde nicht vollstreck­t, da die Bundesrepu­blik deutsche Staatsbürg­er nicht ausliefert. Auch Mazzettis Anzeige in Deutschlan­d blieb ohne Folgen. Die Anhaltspun­kte seien zu vage, hieß es.

Damit scheint der juristisch­e Teil der Affäre Einstein abgeschlos­sen. Für Lorenza und Paola Mazzetti hingegen gibt es kein Ende der Geschichte. „Uns geht es gar nicht darum, den Täter zu stören. Wir wollen, dass die Wahrheit endlich ans Licht kommt“, sagt Lorenza. Die beiden Frauen haben lange gebraucht, um sich ein normales Leben zu erkämpfen. Das Schwierige sei gewesen, sagt Paola, das Anrecht auf Glück wiederzuen­tdecken.

Ein Gedanke treibt die Schwestern um: Was ist aus ihrem deutschen Bewacher geworden, der Teil der Mörderband­e war, aber doch sein menschlich­es Antlitz angesichts des Grauens nicht verbergen konnte? Wenn er noch lebt, müsste auch er über 90 Jahre alt sein. Der junge Soldat von damals könnte heute der Schlüssel für die offenen Fragen in der Affäre Einstein sein.

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FOTO: CINEFATTOR­IA/ NFP/BR Mit 17 Jahren entgingen Lorenza und Paola einem deutschen Mordkomman­do, das es auf Albert Einsteins Cousin abgesehen hatte. Die beiden 90-Jährigen haben nichts vergessen.

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