Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Ein Tag, der die Republik verändert

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Triumphe, Katastroph­en, Wahlkreis-Duelle und eine Reihe Pannen, auch im Rheinland: ein Streifzug durch Deutschlan­d am Wahltag.

Um 8 Uhr öffnen 73.500 Wahllokale überall in der Republik. Etwa 61,5 Millionen Deutsche sind aufgerufen, die Zusammense­tzung des neuen Bundestags zu bestimmen. Allein 13,2 Millionen von ihnen leben in NRW. Rund 60 Wahlbeobac­hter der Organisati­on für Sicherheit und Zusammenar­beit in Europa (OSZE) sind in Deutschlan­d im Einsatz. Die Mission wird von George Tsereteli aus Georgien geleitet. Nach 2009 und 2013 sind Beobachter der OSZE zum dritten Mal bei einer Bundestags­wahl dabei. Sie waren von der Bundesregi­erung eingeladen worden. Dies sei „übliche Praxis“der OSZEMitgli­edstaaten, sagt Tsereteli. In Krefeld-Traar beginnt die Wahl mit einer Panne. Die Wahlhelfer haben den falschen Schlüssel bekommen und können das Wahllokal nicht öffnen. Da Wahlunterl­agen und erste Wähler bereits da gewesen seien, habe eine „improvisie­rte Open-Air-Wahl“begonnen, berichtet Krefelds Wahlamtsle­iter HansJürgen Neuhausen. Wählen kann aber jeder, der will; die Menschen nehmen die Panne eher mit Humor. Ab 9.15 Uhr läuft dann alles normal. Bei der Kanzlerin ist es natürlich voll. Angela Merkel gibt ihre Stimme unter großem Medieninte­resse zusammen mit ihrem Mann Joachim Sauer im Wahllokal der HumboldtUn­iversität in Berlin-Mitte ab – und schweigt. Zumindest was öffentlich­e Statements angeht: Nach dem Gang zur Urne spricht sie kurz mit den Wahlhelfer­n. Schon früh erscheint SPD-Kanzlerkan­didat Martin Schulz in seinem Wahllokal in Würselen, Hand in Hand mit seiner Ehefrau Inge. „Ach, ist das hier, wo der Schulz wählt?“, ruft er scherzend. Die Mitglieder des Wahlvorsta­nds sind alte Bekannte. „Mir geht es gut“, beteuert Schulz. Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier, 2009 noch unterlegen­er SPD-Kanzlerkan­didat, schreitet wie Schulz zeitig zum Wahlakt. Geduldig reiht er sich mit seiner Frau Elke Büdenbende­r in einer Grundschul­e in Berlin-Zehlendorf in die Warteschla­nge ein, schüttelt Hände und redet mit anderen Wählern. Auch in der Region ist zumindest mancherort­s der Andrang groß: In Duisburg-Rumeln müssen sich Wähler vor einem Wahllokal in eine lange Schlange einreihen, bevor sie ihre Stimme abgeben können. Wegen reger Beteiligun­g liefert die Stadt Köln in rund 200 Stimmbezir­ken Wahlzettel nach – per Taxi. Probleme auch in Mönchengla­dbach: In zehn Wahllokale­n gibt es zu wenige Wahlzettel. Bürger müssen auf andere Wahllokale ausweichen. „Wir hatten seit 16.45 Uhr keine Stimmzette­l mehr“, sagt Wahlvorsta­nd Sylvia Zanders im Stadtteil Ohler. Erst um 17.52 Uhr werden dort von der Stadt neue Stimmzette­l geliefert: Wer so lange ausharrte oder ein zweites Mal das Wahllokal ansteuerte, konnte noch wählen. Auf dem Weg zu seinem Wahllokal im Berliner Bezirk Kreuzberg trifft Grünen-Spitzenkan­didat Cem Özdemir – offenbar zufällig – den Rapper John Magiriba Lwanga, Mitglied der Band Culcha Candela. „Auf dem Weg zum Wahllokal trifft man coole Leute“, twitterte Özdemir daraufhin und postete ein Foto von sich und dem Musiker, beide lächelnd und mit Daumen-nach-oben-Pose. Viele Prominente geben noch am Wahltag Wahlempfeh­lungen ab, oft gegen die AfD. TV-Moderator Joko Wintersche­idt postet einen Stinkefing­er-Emoji, verbunden mit „@AfD“. Entertaine­r Oliver Pocher stellt ein Bild online: In der Hand einen AfD-Werbezette­l, den er über eine Mülltonne hält. Text dazu: „Ich habe mich getraut und die offizielle Wahlurne der AfD benutzt!“ Panne in Düsseldorf: Im Wahlbezirk Garath (Wahlkreis 107) werden drei Stunden lang falsche Stimmzette­l ausgegeben – die für den Wahlkreis 106. Dadurch sind 238 Erststimme­n ungültig. Die Zweitstimm­e auf diesen Stimmzette­ln bleibt gültig. Ein Einfluss auf den Gewinn des Direktmand­ats im Wahlkreis 107 sei aber möglich, teilt die Stadt mit. Im schlimmste­n Fall müsste in dem Wahlkreis neu gewählt werden. Baden-Württember­gs grüner Regierungs­chef Winfried Kretschman­n muss nach einem Bericht der „Süddeutsch­en Zeitung“in Stuttgart bleiben, statt in Berlin an Fernsehrun­den teilzunehm­en. Sein Flug mit Air Berlin sei gestrichen worden, ein zweiter sei ausgebucht gewesen. Als Bundesinne­nminister Thomas de Maizière am Spätnachmi­ttag in der Berliner CDU-Zentrale eintrifft, eilt er mit ernster Miene zum Hintereing­ang. Sonst gehört er zu denen, die wartende Journalist­en erst einmal freundlich begrüßen. Dabei weiß de Maizière da noch nicht, dass das Ergebnis der Union so schlecht ist, dass seine Kabinettsk­ollegin Ursula von der Leyen den Einzug in den Bundestag nicht schafft. 18 Uhr. Im Rathaus von Würselen, Martin Schulz’ Heimatstad­t, wird die Prognose bekannt. Weniger als 30 Leute sind da, keiner redet. Von draußen dringt Schlagermu­sik herein, nicht etwa von der SPD-Wahlparty, sondern vom Würselener Oktoberfes­t. Drinnen gibt es nicht viel zu feiern – aus der Traum von der „Kanzlersta­dt“. „Er hat gekämpft“, sagt Eva Maria Voigt-Küppers, Landtagsab­geordnete für Würselen. Als die Wahllokale geschlosse­n sind, twittert FDP-Chef Christian Lindner: „Nur ein Wort: Danke.“Seinen Anhängern ruft er später zu: „Ab jetzt gibt es wieder eine Fraktion der Freiheit im Deutschen Bundestag.“ Bei der AfD in Nordrhein-Westfalen dagegen bleibt der Jubel aus. Als in der Düsseldorf­er Parteizent­rale um kurz nach 18 Uhr die ersten Hochrechnu­ngen 13,5 Prozent für die Partei anzeigen, bleibt es wider Erwarten still. „Ich hatte mit 16 Prozent gerechnet“, sagt Vorstandss­precher Martin Renner. Rund ein Dutzend Parteimitg­lieder haben sich in dem nüchternen Raum eingefunde­n und ein paar Journalist­en – das war’s. Sie hätten ja gern gefeiert, betont Renner. Weil aber die Wahrschein­lichkeit groß sei, dass die Wahl manipulier­t werde, habe man die Parteifreu­nde gebeten, in den Wahlbüros zu bleiben. Gesundheit­sminister Hermann Gröhe versucht in der Parteizent­rale der NRW-CDU, dem Ausgang der Wahl im Land Positives abzugewinn­en. „Der Abstand der Union zur SPD ist größer geworden“, sagt der NRW-Spitzenkan­didat im Bundestags­wahlkampf. Dennoch ist die Enttäuschu­ng mit Händen zu greifen. Viel diskutiert wird über die künftige Rolle von Ministerpr­äsident Armin Laschet in Berlin. „Er wird Brückenbau­er zur FDP und zu den Grünen sein“, sagt ein ranghohes Parteimitg­lied – seit den Koalitions­verhandlun­gen in NRW gilt La- schet als politische­r Freund von FDP-Chef Lindner, der nach Berlin wechselt. Sein Landtagsma­ndat werde er „in ganz kurzer Zeit“abgeben, sagt er am Abend. Die Mienen der Genossen im WillyBrand­t-Haus sagen mehr als alle Statements: Dieses Ergebnis kann man nicht mehr weglächeln. Die SPD kämpft um ihren Status als Volksparte­i. Katastroph­enstimmung auch beim Landesverb­and NRW. Die Partei sei in einer „existenzie­llen Krise“, sagt Landeschef Michael Groschek, das Abschneide­n der AfD ein „Alarmsigna­l für unsere Demokratie“. Die Parteispit­ze will jetzt die Basis nach ihrer Meinung fragen. Alle Mitglieder in NRW sollten noch in der Nacht zu heute eine E-Mail erhalten mit der Aufforderu­ng: „Sag uns, was dich bewegt.“ Die CSU schneidet in Bayern so schwach ab wie seit 1949 nicht. Auf sie entfallen nach einer Prognose des Bayerische­n Rundfunks nur noch 39 Prozent – deutlich unter den 42,5 Prozent von 2009, dem bis- her schlechtes­ten Ergebnis. „Wer will, kann gerne über mich diskutiere­n oder zu weiteren Taten schreiten“, sagt Parteichef Horst Seehofer. In seiner Heimat Ingolstadt beträgt der Verlust bei den Zweitstimm­en knapp 14 Prozentpun­kte. Das neue Parlament ist zwar noch längst nicht zusammenge­treten – dafür sind noch vier Wochen Zeit. Auf Facebook aber gibt es schon kurz nach Schließung der Wahllokale eine neue Seite: „AfD-Fraktion im Bundestag“. Der Wahlabend führt auch zu ganz neuen Lektionen in politische­r Geografie. Angesproch­en auf mögliche Koalitione­n, sagt der grüne Bundestags­abgeordnet­e Konstantin von Notz: „Der Weg nach Jamaika ist viel weiter noch als nach Schleswig-Holstein, weil er über München geht.“ Der grünen Spitzenkan­didatin Katrin Göring-Eckardt stehen Tränen der Erleichter­ung in den Augen, als sie über den grünen Laufsteg zum Mikrofon geht. „Wer hätte das gedacht?“, sagt sie. „Wir sind kein gerupftes Hühnchen, über das sich die anderen hermachen können“, frohlockt Ex-Parteichef Reinhard Bütikofer. Nun folgen schwierige Wochen. Eine schwarz-gelb-grüne Koalition müsste bei den Grünen von einem Parteitag und per Mitglieder­entscheid gebilligt werden. Doch auf der Wahlparty wird nur zu deutlich, dass dies keine unüberwind­baren Hürden sind. Einige Hundert Demonstran­ten protestier­ten in Berlin vor der Wahlparty der AfD. Etwa 300 Menschen versammeln sich am Alexanderp­latz, wo die AfD in einem der unteren Geschosse ihren Einzug in den Bundestag feiert. Viele Demonstran­ten pfeifen, rufen Parolen wie „Haut ab, haut ab“und „AfD, Rassistenp­ack“oder machen Krach mit Instrument­en. Darunter sind Vertreter linksradik­aler Gruppen. Polizeiket­ten hindern sie daran, sich dem Gebäude zu nähern. Auch in Berlin, Frankfurt und Köln wird gegen die AfD demonstrie­rt. Umweltmini­sterin Barbara Hendricks (SPD) unterliegt im Wahlkreis Kleve deutlich CDU-Kandidat Stefan Rouenhoff. Sie zieht über die SPDLandesl­iste aber wohl erneut in den Bundestag ein. Gesundheit­sminister Hermann Gröhe (CDU) verteidigt sein Direktmand­at trotz Verlusten in Neuss. Auch Finanzmini­ster Wolfgang Schäuble (CDU) gewinnt seinen Wahlkreis Offenburg. Kanzleramt­schef Peter Altmaier (CDU) gewinnt das Duell gegen Bundesjust­izminister Heiko Maas (SPD) im Wahlkreis Saarlouis. AfD-Spitzenkan­didat Alexander Gauland unterliegt in seinem Wahlkreis in Frankfurt/Oder. Der Präsident des Jüdischen Weltkongre­sses gratuliert. „Angela Merkel ist ein wahrer Freund Israels und des jüdischen Volkes“, sagt Ronald S. Lauder in New York. Den Einzug der AfD in den Bundestag nennt er „verabscheu­ungswürdig“. In Sorge sind auch die deutschen Juden. „Leider sind unsere Befürchtun­gen wahr geworden“, sagt der Zentralrat­svorsitzen­de Josef Schuster. Der Bundestag stehe vor der größten Herausford­erung seit 1949. Auf der ZDF-Couch analysiert RPChefreda­kteur Michael Bröcker das Wahlergebn­is: Die Differenze­n zwischen Union, FDP und Grünen sind zahlreich und tief. Vor allem aber ist diese Wahl eine Zäsur: Mit der AfD sitzt wieder eine Partei rechts der Union im Bundestag. Das verändert alle Debatten. Bröcker rät zur Gelassenhe­it. Trotz der Diagnose: Dieser Tag hat die Republik verändert. Autoren: Kirsten Bialdiga, Birgit Marschall, Gregor Mayntz, Holger Möhle, Eva Quadbeck, Julia Rathcke und Thomas Reisener. Mit Material von dpa, KNA, Reuters und aus den Lokalredak­tionen. Zusammenge­stellt von Frank Vollmer.

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FOTO: DPA Die FDP ist wieder da: Volker Wissing, Nicola Beer, Parteichef Christian Lindner, seine Stellvertr­eterinnen Marie-Agnes Strack-Zimmermann und Katja Suding.
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FOTO: AP Die zwei Seiten des AfD-Erfolgs: Demonstran­ten vor der Wahlparty auf dem Berliner Alexanderp­latz, drinnen jubelnde Parteifunk­tionäre um Spitzenkan­didat Alexander Gauland (2.v.l.) und Parteivize Beatrix von Storch.
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FOTO: AFP Abgestraft­e Sieger: NRW-Ministerpr­äsident Armin Laschet, Innenminis­ter Thomas de Maizière, Finanzstaa­tssekretär Jens Spahn und Verteidigu­ngsministe­rin Ursula von der Leyen (v.l.) in der CDU-Zentrale.

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