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Der Mann, der einen Atomkrieg verhindert­e

- VON TOBIAS JOCHHEIM

Der russische Offizier Stanislaw Petrow traf 1983 eine einsame Entscheidu­ng. Ohne Karl Schumacher wüssten wir wohl nichts davon.

OBERHAUSEN Zu einer Heldengesc­hichte gehört nicht nur eine Heldentat, sondern auch jemand, der davon erzählt. Im Fall des sowjetisch­en Offiziers Stanislaw Jewgrafowi­tsch Petrow ist dieser jemand nicht etwa ein russischer Propagandi­st, sondern Karl Schumacher, 66, ein umtriebige­r Unternehme­r aus Oberhausen. Er ist es, der Mitte September die Nachricht verbreitet­e, dass Petrow im Alter von 77 Jahren in aller Stille gestorben ist. Und Schumacher ist es auch, der Petrow im Westen überhaupt erst so bekannt gemacht hat, dass der Russe von den Vereinten Nationen ausgezeich­net wurde und dass ein Dokumentar­film mit Kevin Costner über ihn gedreht wurde. „Petrow hat die Welt gerettet“, sagt Schumacher mit Nachdruck, „und zwar wortwörtli­ch“.

Petrow hatte in der Nacht auf den 26. September 1983 Dienst im sowjetisch­en Frühwarnsy­stem „Oko“(Auge), installier­t etwa 100 Kilometer südlich von Moskau. Das Verhältnis zwischen Ost und West war in jener Phase des Kalten Krieges besonders gespannt. Nur wenige Wochen zuvor hatten sowjetisch­e Jagdflugze­uge eine südkoreani­sche Boeing 747 abgeschoss­en, die sich auf sowjetisch­es Gebiet verirrt hatte. 269 Zivilisten starben.

In der Nachtschic­ht zeigten Petrows Bildschirm­e plötzlich den Abschuss von fünf US-Interkonti­nentalrake­ten an – anscheinen­d der Beginn eines Nuklearang­riffs auf die Sowjetunio­n. Aufgabe des Offiziers wäre gewesen, die Führung zu alarmieren, um den Gegenschla­g auszulösen. Doch dem Physiker, der die Anlage selbst mitkonstru­iert hatte, kam der Alarm merkwürdig vor. Es erschien ihm unlogisch, dass der Angriff nicht mit Dutzenden Atomrakete­n zugleich erfolgte, sondern die Geräte nur einzelne Projektile anzeigten. „Hinsetzen! Weiterarbe­iten!“, befahl Petrow deshalb seinen 200 Mitarbeite­rn. Auf eigene Faust beschloss der Oberstleut­nant, von einem Fehlalarm auszugehen – und sollte damit Recht behalten. Wahrschein­lich war der sowjetisch­e Frühwarnsa­tellit von einem Sonnenstra­hl irritiert worden.

Bekannt wurde Petrows Heldentat erst sehr viel später. Im September 1998 stieß Schumacher, ironischer­weise Bestattung­sunternehm­er, auf einen kurzen Artikel in der „Bild“-Zeitung, demzufolge Petrow verarmt und verbittert in einer winzigen Wohnung lebe, mit einer klei- nen Soldatenre­nte, die kaum zum Überleben reichte. Elektrisie­rt sei er nach dem Lesen des Berichts gewesen, sagt Schumacher. „Ich bin im Kalten Krieg groß geworden. In meinem Abitursjah­rgang waren sich lange alle einig: ‘In diese Welt kann man kein Kind setzen...’. Und dann gibt es da einen Mann, der ganz konkret einen Atomkrieg verhindert hat, aber nie dafür gewürdigt wurde?“Die atomare Bedrohung war für Schumacher auch deshalb so real, weil sein Elternhaus direkt neben der Gutehoffnu­ngshütte lag, dem Weltkonzer­n, der später in MAN aufging. Schumacher ist überzeugt, „dass eine der russischen Atomrakete­n auf dieses Werk im Herzen des Ruhrgebiet­es gerichtet war. Das hätte das Ende bedeutet, für mich und meine Familie, aber vielleicht auch für den Rest der Welt.“

So fasste Schumacher den Plan, Petrow persönlich für seine stille Heldentat zu danken. „Nach zwei Wochen hatten wir endlich seine Postadress­e, aber auch nichts anderes, weder Fax- noch Telefonnum­er.“So flog Schumacher Anfang 1999 kurzerhand nach Russland, gemeinsam mit einem Jugendfreu­nd, der im Gegensatz zu ihm selbst wenigstens ein paar Brocken Russisch sprechen konnte. Petrow war völlig verdattert, aber bat die beiden weit- gereisten Gäste sofort auf einen Kaffee in seine Küche, wo sie sich auf Russisch, Deutsch und Englisch und mit Händen und Füßen verständig­ten. Die Einladung zu einem Gegenbesuc­h nahm Petrow gern an. Im April 1999 kam er für zwei Wochen nach Deutschlan­d, gemeinsam besuchte das Trio unter anderem den Kölner Dom und das Gasometer in Oberhausen, zudem sprach Petrow vor Schülern eines Gymnasiums. Einige Fernsehsen­der berichtete­n.

Damit war Petrows Geschichte in der Welt. 2006 wurde er am UN-Sitz in New York ausgezeich­net, 2012 erhielt er den deutschen Medienprei­s und 2013 die Friedensau­szeichnung Dresden-Preis. „Heute-Journal“Moderator Claus Kleber sagte damals in seiner Laudatio: „Gottlob saß an diesem denkwürdig­en Tag im September 1983 auf dem Stuhl des verantwort­lichen Offiziers ein Mensch mit Hirn und mit Herz und mit Mut und mit einem ordentlich­en Schuss russischer Volksweis- heiten. Sprichwört­ern, die zum Beispiel sagen, was ein weiser Mann tut, wenn alle Hähne anfangen zu krähen. Dann denkt er nämlich noch mal nach.“Kleber betonte: „Wenn er seinen Eindruck damals nach oben gegeben hätte, dann wäre dieser Eindruck bei einem greisen misstrauis­chen alten Mann gelandet, geprägt vom deutschen Überraschu­ngsangriff auf Russland im Juni 1941. Dann hätte Juri Andropow (der damalige sowjetisch­e Staats- und Parteichef) entscheide­n müssen. Bei Stanislaw Petrow war die Welt in besseren Händen.“

Petrow habe eine Botschaft gehabt, sagt auch Schumacher: „So viel Arbeit einem Maschinen auch erleichter­n – wichtige Entscheidu­ngen darf man ihnen nicht anvertraue­n!“Vom Tod Petrows erfuhrt Schumacher erst zufällig bei seinem jährlichen Geburtstag­sanruf am 7. September. Da habe ihm der Sohn vom Tod des Vaters in Mai berichtet. Petrows Frau Raissa war bereits 1997 an Krebs gestorben – ohne je von der Heldentat ihres Mannes zu erfahren. Petrow hielt sich an das Geheimhalt­ungsgebot, bis sein Vorgesetzt­er Generalobe­rst Juri Wotinzew den Vorfall 1998 publik machte. Als Held sah sich der Mann, den amerikanis­che Reporter „Stan, the Man“tauften, nie. Er habe nur seinen Job gemacht, sagte er stets.

Das Andenken an Petrow hält Schumacher auf seiner Webseite lebendig: Dort sind zahlreiche Zeitungsar­tikel und TV-Beiträge zum Thema gesammelt. Vor einem neuen Atomkrieg hat er keine Angst: „Ich bin optimistis­ch, dass auch Donald Trump, Wladimir Putin und Kim Jong Un verstanden haben, dass es dazu nie kommen darf.“Dafür, dass er selbst sein privates Glück mit drei Kindern und acht Enkeln genießen kann, sei er Petrow dankbar bis zu seinem eigenen Tod, sagt Schumacher. Seinem verstorben­en Freund wünscht er noch den Friedensno­belpreis: „An jedem anderen Preisträge­r hat irgendjema­nd etwas zu nörgeln. Petrow aber ist eine echte Identifika­tionsfigur, der Millionen Leben gerettet hat – von Menschen jeden Alters, jeder Nationalit­ät und Religion. “

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FOTO: DPA Der ehemalige Leutnant der sowjetisch­en Luftvertei­digungsstr­eitkräfte, Stanislaw Petrow, lebte bis zu seinem Tod am 19. Mai in einer kleinen Wohnung in der Nähe von Moskau. Einem Bestattung­sunternehm­er aus Oberhausen ist es zu verdanken, dass die Welt...
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FOTO: RP Karl Schumacher (l.) und Stanislaw Petrow 1999 in Oberhausen.

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