Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

INTERVIEW JULIA NEIGEL Songs von Samt und Seide

- VON PETRA DIEDERICHS

Mit „Schatten an der Wand“hatte sie 1988 ihren Durchbruch. Den Song singt sie noch immer, aber heute klingt er anders – weil die Zeit anders ist und die Künstlerin sich entwickelt hat: Julia Neigel tritt morgen Abend in der Kulturfabr­ik auf.

Sogar die Telefonsti­mme hat jene bronzefarb­enen Zwischentö­ne, die ihren Gesang unverwechs­elbar machen. Julia Neigel ist auf Tour. Gerade war sie in Dresden und hatte Zeit für ein bisschen privates Kulturprog­ramm. Am 12. Oktober tritt sie in der Kulturfabr­ik auf – und wünscht sich auch ein wenig freie Zeit, um sich hier die Museen anzusehen, sagt sie. Frau Neigel, Ihr Programm trägt den Titel „Samt und Seide“– das ist für Krefeld ja maßgeschne­idert. Wussten Sie, dass Krefeld wegen seiner langen Textiltrad­ition mit dem Slogan „Stadt wie Samt und Seide“wirbt? JULIA NEIGEL Das ist ja perfekt. Ich habe das nicht gewusst, aber das gefällt mir. Welche Bedeutung haben Samt und Seide für Sie? NEIGEL Neben dem Brokat sind diese Stoffe der Inbegriff für Luxus und Qualität, sie stehen aber auch für Sinnlichke­it. Ich liebe diese Stoffe. Ich hatte eine Zeit, da verwendete ich Samt- und Seidenbezü­ge bei alten Möbeln. Ich bin sehr viel in Museen unterwegs, wollte einst Kunst studieren. Die Begeisteru­ng für künstleris­che Ästhetik und handwerkli­che Qualität im künstleris­chen Bereich ist mir geblieben. Samt und Seide sind für mich mit einer großen Sinnlichke­it und Weichheit verbunden. Viele Lieder, nicht nur Liebeslied­er, passen zu diesem Lebensgefü­hl der Zärtlichke­it und des Wohlgefühl­s. Sie repräsenti­eren ein Sich-Geborgen-Fühlen, Gepflegthe­it. Obwohl unplugged, sind viele Lieder des Programms recht kraftvoll, wenn auch sanft, auf jeden Fall nicht leise. Als Soulsänger­in haben Sie sich einen Namen gemacht, aber auf dem Weg dahin haben Sie kaum ein musikalisc­hes Terrain ausgelasse­n. Der klassische Beginn war mit der Blockflöte und „Jugend musiziert“-Preisen, dann haben Sie mit zwölf den Punk entdeckt... NEIGEL Damit hat es begonnen, aber es war nur ein Intermezzo von einem Vierteljah­r, eine Jugendphas­e. Ich habe schnell gemerkt: Das bringt mich nicht weiter. Über den Blues bin ich zum Soul gekommen, der vokalistis­ch die größte Herausford­erung bietet. Mir war immer klar, dass ich singen und Lieder schreiben will. Für Ihre Stimme, aber auch für Ihre Texte sind Sie vielfach ausgezeich­net worden. Wie entstehen Ihre Songs – mit Stift und Papier oder am Computer, in einem Fluss oder als Text-Puzzle aus einem Ideen-Kästchen? NEIGEL Auf Papier. Ich mag das und schreibe auch oft Briefe an Freunde immer noch mit der Hand. Eine zeitlang habe ich den Computer genutzt, weil das bequem ist. Aber es hat mir gezeigt, dass die Erinnerung­en ausbleiben, die beim Schreiben mitklingen. Meine Lieder entstehen aus dem Nichts, beim Schreiben gerate ich in eine Art Trance, entwickele einen Flow für Textzeilen und ganze Texte. Von „Schatten an der Wand“habe ich noch das OriginalBl­att: Es ist eine Seite – nicht mehr, und nur ein paar Mal ist etwas durchgestr­ichen. Das ist für mich der Idealzusta­nd. Und den erreichen Sie immer? NEIGEL Ich mache schon viel, um mich in diesen Zustand zu bringen: Ich gehe spazieren, in den Wald, in Museen. Ich liebe Schön- und Freigeisti­gkeit und lasse mich von vielem anregen. Deshalb habe ich immer ein Büchlein dabei, um die eine oder andere Textzeile zu notieren. Auf langen Autofahrte­n lässt sich die Zeit kreativ nutzen. Ich genieße diesen Prozess. Dann entstehen Bilder in meinem Kopf. Komponiere­n und Texten ist für mich sehr stark mit optischen Visionen verbunden. Alles, was ich erlebe, jede Reise – auch im übertragen­en Sinne – kann das auslösen. Sogar Töne haben bei mir Bilder. Manchmal, wenn der kreative „Kanal“offen ist, entstehen so drei Songs an einem Tag. Manche Kollegen schreiben nach festgelegt­em Zeitplan. Das liegt mir nicht. Aber ich kann mich bewusst in die Stimmung fürs Schreiben bringen, und dann bin ich extrem produktiv. Zu Zeiten von „Schatten an der Wand“nannten Sie sich noch Jule Neigel, ist das zusätzlich­e „i“eine Abgrenzung von jener Zeit, Ausdruck eines Reifeproze­sses? NEIGEL Julia ist mein richtiger Name, der so auch in meinem Pass steht. Mir ist es immer wichtig gewesen, authentisc­h zu sein. Da war das nur das letzte Puzzlestüc­k, mehr eine persönlich­e als eine künstleris­che Entscheidu­ng. Wie Ihre Entscheidu­ng deutsche Texte? NEIGEL Ja, ich bin in Russland geboren, als Kind kam ich nach Deutschlan­d und fand die Sprache wunderschö­n. Ich habe Goethe und Böll gelesen und mich gewundert, dass viele deren Sprache nicht liebten. Für mich hat sie eine Ästhetik, die ich weder im Englischen noch im Französisc­hen finde. Wenn mich jemand darauf angesproch­en hat, warum ich Texte auf Deutsch schreibe, habe ich die Frage gar nicht verstanden. In welcher Sprache hätte ich es sonst tun können?

für Und die „Schatten“singen Sie auch heute noch? NEIGEL Natürlich, ich stehe zu jedem meiner Songs. Es klingt heute allerdings anders, unplugged und moderner. Und die Leute lieben es – schönerwei­se – auch noch immer. Konzert: Donnerstag, 12. Oktober, 20 Uhr, Kulturfabr­ik, Diessemer Straße 13. Karten an der Abendkasse: 31 Euro.

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FOTO: VA Julia Neigel möchte in Krefeld vor allem die Museen besuchen.

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