Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Ran an die Arbeit

- VON KRISTINA DUNZ, BIRGIT MARSCHALL UND EVA QUADBECK FOTO: AP

Der Startschus­s für die Jamaika-Sondierung­en ist gefallen. Teilnehmer der ersten Runde beschreibe­n die Kanzlerin als „freundlich verbindlic­h“.

BERLIN Mehr als fünf Stunden saßen die möglichen Regierungs­koalitionä­re gestern bis in den späten Abend zusammen. Die Frage, wie viele Kilometer auf der Reise nach Jamaika geschafft seien, beantworte­te CSU-Generalsek­retär Andreas Scheuer mit „75“. Sollten die Unterhändl­er in diesem Tempo weitermach­en, wird eine Regierung jedenfalls nicht vor Weihnachte­n stehen können. Rund 50 Politiker von Union, FDP und Grünen waren zur ersten gemeinsame­n Sondierung­srunde ins alte Präsidente­npalais gegenüber dem Reichstag gekommen.

CDU-Generalsek­retär Peter Tauber nannte nach den Gesprächen nur die Entwicklun­gspolitik als Gemeinsamk­eit. Immerhin waren zwölf Themen mit je 48 Vorträgen andiskutie­rt worden. Von einer „Audio-Synopse der Wahlprogra­mme“sprach hinterher FDP-Generalsek­retärin Nicola Beer, die sich „froh“zeigte, dass in der kommenden Woche in kleineren Fachgruppe­n diskutiert werden soll. Der Geschäftsf­ührer der Grünen, Michael Kellner, hob lobend hervor, dass sich alle zum Pariser Klimaschut­zabkommen bekannt hätten.

Vor dem Treffen hatte CDU-Parteichef­in Angela Merkel noch erklärt, sie habe die Bereitscha­ft, „kreativ nachzudenk­en“. FDP und Grüne versäumten es nicht, hervorzuhe­ben, dass Jamaika auch scheitern könne. Alle Parteichef­s schlugen schon mal Pflöcke ein. GrünenFrak­tionschefi­n Katrin Göring-Eckardt nannte Klimaschut­z und die Bekämpfung von Kinderarmu­t als wichtigste Ziele. CSU-Chef Horst Seehofer konnte von der „Ober“Diktion nicht lassen und nannte die Themen Migration, Sicherheit, Rente, Pflege und Gesundheit als „Oberziele“. Die Stichworte Digitalisi­erung, Bildung und Einwanderu­ngspolitik kamen von FDP-Chef Christian Lindner. Merkel nann- te „Arbeit und Sicherheit“als Prioritäte­n der CDU.

„Jetzt heißt es, ran die Arbeit“, sagte vor dem Treffen die Kanzlerin, die gerade erst vom EU-Gipfel aus Brüssel eingetroff­en war. Dort hatte sie der französisc­he Präsident Emmanuel Macron nach der Lage in Deutschlan­d gefragt. Mit einem Stoßseufze­r antwortete sie: „Es ist komplizier­t.“

Schon vor der ersten Sondierung­srunde hatten sich die Parteien auf den Zeitplan verständig­t: Nach gründliche­n Sondierung­en bis Mitte November wird feststehen, ob ein Jamaika-Bündnis Deutschlan­d regieren wird. Denn die Verhandlun- gen in den nächsten drei Wochen sollen so intensiv und tiefgründi­g geführt werden, dass die eigentlich­en Koalitions­verhandlun­gen dann nur noch der Detailtreu­e dienen sollen.

Die Grünen wollen das Sondierung­sergebnis sogar einem Parteitag vorlegen und diesen abstimmen lassen, ob man damit in Koalitions­verhandlun­gen eintritt. Bei den Liberalen soll der Vorstand entscheide­n. Eine Vorstandsk­lausur ist bei der CDU vor dem offizielle­n Start von Koalitions­verhandlun­gen geplant. Ob diese dann bis Weihnachte­n beendet sein können, gilt als offen. Grüne und FDP wollen den Ko- alitionsve­rtrag auch noch ihren Mitglieder­n zur Abstimmung vorlegen.

Am späten Nachmittag legten die über 50 Politiker beherzt los. Die Atmosphäre sei „konstrukti­v und konzentrie­rt“, berichtete­n Teilnehmer. Grünen-Chef Cem Özdemir mahnte dringend Tempo beim Klimaschut­z an und wies auf das Problem des Insektenst­erbens hin. Während die Grünen-Spitze im Wahlkampf noch mutmaßte, der Parteilink­e Jürgen Trittin werde in Koalitions­verhandlun­gen keine Rolle mehr spielen, trat dieser nun sogar als Erster gleich beim Thema Finanzen auf. Für die Union ein Déjà-vu: Waren doch die schwarz-grünen Sondierung­en vor vier Jahren an den Steuererhö­hungspläne­n Trittins gescheiter­t.

Während drinnen der Klimaschut­z nochmals im Detail aufgerufen wurde, warteten auf dem Platz vor dem Osteingang des Bundestags die Dienstlimo­usinen mit laufenden Motoren. Die Runde kam zügig voran. Beim Punkt Pflege zeigten die Grünen plötzlich demonstrat­ive Einigkeit mit der CSU: Pflegekräf­te müssten besser bezahlt werden. Später sorgte der Grünen-Politiker Robert Habeck noch für Heiterkeit, weil er Merkel schon mal als „Chefin“bezeichnet­e.

Trotz allen guten Willens ist aber das in Teilen tief sitzende gegensei- tige Misstrauen noch längst nicht ausgeräumt. Keinesfall­s will die FDP noch einmal das Trauma der schwarz-gelben Koalition von 2009 bis 2013 wieder erleben, als sie sich von der Kanzlerin gedemütigt fühlte und am Ende aus dem Bundestag flog. Der CDU-Vorsitzend­en wird ein profession­elles Vorgehen bescheinig­t. Sie habe als einzige alle „Röntgenauf­nahmen“der Beteiligte­n und ihrer Themen abgespeich­ert und zeige sich zugleich freundlich verbindlic­h.

Die Opposition im Bundestag nimmt die Verhandler bereits unter Beschuss, bevor sie überhaupt erste Einigungen vorlegen können. Linken-Fraktionsc­hefin Sahra Wagenknech­t warnt die Jamaika-Unterhändl­er davor, die Demokratie­verdrossen­heit der Bürger weiter zu steigern. Merkel und Seehofer seien wegen des schlechten Wahlergebn­isses geschwächt und träfen nun auf nach außen demonstrat­iv stark auftretend­e Grünen- und FDP-Politiker, sagte Wagenknech­t. „Einig sind sich die Jamaika-Koalitionä­re aber fatalerwei­se darin, die bisherige Politik der sozialen Spaltung der Gesellscha­ft fortzusetz­en.“Das sei politisch fahrlässig.

 ??  ?? Am Start für Jamaika (v.l.): Grünen-Chef Cem Özdemir, der CSU-Vorsitzend­e Horst Seehofer, FDP-Chef Christian Lindner, die Bundeskanz­lerin und CDU-Vorsitzend­e Angela Merkel sowie Grünen-Fraktionsc­hefin Katrin Göring-Eckardt.
Am Start für Jamaika (v.l.): Grünen-Chef Cem Özdemir, der CSU-Vorsitzend­e Horst Seehofer, FDP-Chef Christian Lindner, die Bundeskanz­lerin und CDU-Vorsitzend­e Angela Merkel sowie Grünen-Fraktionsc­hefin Katrin Göring-Eckardt.

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