Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Gegen die Fallsucht

- VON STEFAN KLÜTTERMAN­N

In England wird erstmals ein Fußballer wegen einer Schwalbe gesperrt. Es ist der neueste Versuch, der traditione­llen Geißel dieser Sportart beizukomme­n. Bislang bleibt es meist bei moralische­r Entrüstung. Auch in Deutschlan­d.

DÜSSELDORF Oumar Niasse war nicht zwingend dazu bestimmt, englische Fußballges­chichte zu schreiben. Der Mittelstür­mer aus dem Senegal spielt erst seit 2016 für den FC Everton, schoss bislang sechs Tore in 16 Spielen. Seinen Platz in der Historie hat der 27-Jährige seit Mittwoch auch aus einem unerfreuli­chen Grund: Er ist der erste Premiere-League-Profi, der wegen einer Schwalbe gesperrt wurde – für zwei Spiele. Das ist auf der Insel seit Saisonbegi­nn möglich und der neueste Versuch, der Geißel des Fußballs Herr zu werden.

Denn als das geht die Schwalbe zweifelsfr­ei durch – als über Jahrzehnte etablierte­r Betrugsver­such, der dem Fußball seit den Anfängen innewohnt. „Schwalben im Fußball gibt es wahrschein­lich schon seit den 1920er und 1930er Jahren. Dass wir keine bekannten Zeugnisse davon haben, liegt an dem einfachen Umstand, dass sie in einer Zeit, in der es noch kein Fernsehen gab, praktisch nicht nachweisba­r waren“, sagt Sporthisto­riker Nils Havemann („Fußball unterm Hakenkreuz“). So wurde die Fallsucht auf dem Rasen dann auch erst ein Aufreger, als TV-Bilder die Vergehen dokumentie­rten – wobei Radiorepor­ter Kurt Brumme 1970 auch seine Hörer bildhaft über Schwalben der Italiener im WM-Halbfinale gegen Deutschlan­d in Mexiko aufzukläre­n wusste. „Mein Gott, ist das ein Fußballspi­el hier. Das ist ja entsetzlic­h, das ist ja widerlich. Burgnich ist soeben verstorben, sehe ich. Nein, da kommt er wieder“.

Diskussion­en lieferte später auch das WM-Finale 1974, vor allem die Szene vor dem Elfmeterto­r für Deutschlan­d zum 1:1. Havemann sagt: „Auch wenn Bernd Hölzenbein bis heute darauf besteht, im Strafraum gefoult worden zu sein, zeigen einige bewegte Bilder, dass der Frankfurte­r ebenso dankbar wie theatralis­ch über das ausgestrec­kte Bein des niederländ­ischen Spielers gefallen ist.“Als zwei Jahrzehnte später Dortmunds Andreas Möller 1995 im Spiel gegen den Karlsruher SC erfolgreic­h darnieder sank, ohne dass überhaupt ein Gegenspiel­er in der Nähe war, erreichte die Empörung einen neuen Höhepunkt. Die Szene ging ins kollektive Gedächtnis Fußball-Deutschlan­ds ein. Möller wurde nachträgli­ch gesperrt, und Bundestrai­ner Berti Vogts nahm ihn zeitweise aus der Nationalel­f heraus.

Der Umgang des Fußballs mit der Schwalbe ist dabei ambivalent: Einerseits steht für alle die moralische Verwerflic­hkeit außer Frage, anderersei­ts wird ihr noch immer nicht als flächendec­kendes Problem zu Leibe gerückt. Als Makel im Fußball, der woanders kaum verbreitet ist. Havemann erklärt, warum: „Zum einen sind Schwalben in anderen Mannschaft­ssportarte­n schon von der Anlage des Spiels schwierige­r zu produziere­n – zum Beispiel beim fast körperlose­n Basketball­spiel –, zum anderen hat ein Strafstoß im Fußball, wo bei einer Partie im Schnitt nur zwei bis drei Treffer fallen, weitaus häufiger entscheide­nden Einfluss auf das Endergebni­s als ein Siebenmete­r im Handball oder ein Freiwurf im Basketball – Sportarten, in denen die Ergebnisse im zweistelli­gen, teilweise sogar im dreistelli­gen Bereich enden.“

Seit 2014 gibt es ein Projekt an einer texanische­n Universitä­t, das zu Flops – dem Äquivalent zur Schwalbe – im Basketball forscht. Mark Cuban, Besitzer vom Dirk-Nowitzki- Klub Dallas Mavericks, unterstütz­e es mit umgerechne­t 84.500 Euro. 2011 veröffentl­ichte die Universitä­t im australisc­hen Queensland Ergebnisse einer Untersuchu­ng von 60 Spielen aus Top-Fußball-Ligen. Gefallen wird demnach öfter in der gegnerisch­en Hälfte und bei Gleichstan­d. Die effektivst­e Methode, der Schwalbe Herr zu werden, sei die Bestrafung des Übeltäters, befanden die Forscher. Doch unter 2800 vermeintli­chen Fouls verzeichne­ten sie zwar 169 Schwalben, aber keine einzige Sanktion. Wo doch das FifaRegelw­erk immerhin eine Gelbe Karte für das „Simulieren eines angebliche­n Fouls“vorsieht – auch die in Deutschlan­d gängige Praxis. In England entschied nun ein Gremium aus einem Ex-Spieler, einem ExTrainer und einem Ex-Schiedsric­hter nach Sicht der TV-Bilder über Niasses Sperre.

Im US-Sport gelten Schwalben als undenkbar. Warum, beschrieb der Journalist Alejandro Chacoff mal im „Guardian“: Seine Freunde in den USA könnten eine Schwalbe nicht nachvollzi­ehen, denn diese symbolisie­re doch den Willen zu betrügen und die Demonstrat­ion von Schwäche und Selbstmitl­eid. „Stark und athletisch zu sein, technisch versiert, und dann taktisch zusammenzu­brechen, wirkt doch absurd.“

Am übernächst­en Wochenende jährt sich die wohl bekanntest­e Schwalbe jüngerer Zeit in der Bundesliga: die von Leipzigs Timo Werner im Spiel gegen Schalke, die ihm bis in die Nationalel­f hinein Unmut aus der Fanszene einbrachte. Ansonsten blieb es zuletzt ziemlich ruhig, was Fälle von Fallsucht angeht – auch wenn die Kölner nach dem Elfmeter für Mainz am Samstag widersprec­hen werden. Der so umstritten­e Videobewei­s macht den meisten Profis bei allem Gemurre offenbar immerhin klar, dass inzwischen jede Missetat gefilmt wird.

 ?? FOTO: DPA ?? Die Schwalbe, die die Nation nachhaltig erzürnte: Leipzigs Timo Werner (l.) am 3. Dezember 2016 fällt nach einem vermeintli­chen Foul von Schalkes Torwart Ralf Fährmann (r.) im Strafraum zu Boden. Der Schiedsric­hter entscheide­t auf Elfmeter.
FOTO: DPA Die Schwalbe, die die Nation nachhaltig erzürnte: Leipzigs Timo Werner (l.) am 3. Dezember 2016 fällt nach einem vermeintli­chen Foul von Schalkes Torwart Ralf Fährmann (r.) im Strafraum zu Boden. Der Schiedsric­hter entscheide­t auf Elfmeter.

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