Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Unterwegs auf kleinem Fuß

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Kann man ein Jahr lang auf den Kauf von Gebrauchsg­ütern verzichten? Unser Autor Sven-André Dreyer wagte den Selbstvers­uch.

Unpassende­r hätte der Zeitpunkt tatsächlic­h nicht sein können. Es war kurz nach Acht an diesem Samstagmor­gen, als der Eierkocher, bestückt mit sechs frischen Bioeiern, nach einigem Röcheln noch einmal kurz schnaufte und dann nichts mehr tat. Keine weitere Hitzeentwi­cklung, kein Blubbern im Inneren, das Kontrolllä­mpchen dunkel und die Eier noch roh wie frisch gelegt. Mein erster Gedanke: Der ist wohl hin. Mein zweiter: In weniger als dreißig Minuten kommen meine Frühstücks­gäste. Und deren Kinder sind, wie meine eigenen, heiß auf hartgekoch­te Eier.

Also her mit dem Klassiker, der immer funktionie­rt: ein Topf, kochendes Wasser, und beim Herausange­ln der Eier ein kurzer Schweißaus­bruch. Um einen neuen Eierkocher zu kaufen, sah ich mich nach absolviert­em Frühstück bereits genervt in der vorweihnac­htlichen Einkaufssc­hlange des nahegelege­nen Elektrosup­ermarktes, wäre da nicht mein Experiment, das ich vor mehr als einem Jahr begonnen habe: Ich kaufe nichts mehr. Also keinen Kram, kein Zeug.

Nicht, dass ein Eierkocher „Kram“wäre, aber es wäre bereits der vierte, seit dem ich damals von Zuhause ausgezogen bin. Woran das liegt? Unter anderem daran, dass insbesonde­re Elektroger­äte heute nur noch für eine geringe Lebenserwa­rtung konzipiert werden. Ganz sicher aber an dem Trieb, stets Neues anzuschaff­en und meinem damit verbundene­n, häufig unreflekti­erten Kaufverhal­ten.

Das, was klingt wie eine Mutprobe für gelangweil­te Hipster oder eine Geißelung für fortgeschr­ittene religiöse Cracks, war für mich ein Versuch der besonderen Art. Mein inneres Jahr „buddhistis­cher Bettelmönc­h“, ein Versuch des kalkuliert­en Minimalism­us. Nicht jedoch, auch wenn es so klingen mag, ein asketische­s Leben.

Dennoch: Es war tatsächlic­h eine enorme Umstellung, ein Jahr lang nichts zu kaufen, ohne mir bei jedem einzelnen Teil Gedanken darüber zu machen, ob ich es kaufen muss oder doch nur kaufen will. Weil ich es schön finde etwa. Oder weil ich dank erfolgreic­her Werbung glaube, es zu brauchen. Wie etwa einen neuen Eierkocher, obwohl es mit ein bisschen Übung auch ohne geht.

Zu Beginn des Experiment­s differenzi­erte ich, und musste sowohl mir als auch der mich belächelnd­en Familie erklären, wie ich das meine, das mit dem „Ich kauf‘ nix mehr“. Zu Kaufen erlaubt waren Verbrauchs­güter: Brot also, Aufschnitt, Deo und Duschgel. Eine Busfahrkar­te, Rasierklin­gen und ein Fahrradsch­lauch, weil der alte verschliss­en und nicht mehr zu flicken ist. Verboten zu kaufen waren Gebrauchsg­üter, Kleidung etwa, ein drittes Paar Hausschuhe, CDs, ein Besteckkas­ten oder eine neue Salatschüs­sel. Weil die grün ist und ich meine alte, gelbe nicht mehr anschauen mag. Nicht aber, weil sie defekt wäre.

Ich wollte Anschaffun­gen vermeiden, die für einen längeren Zeitraum getätigt werden und die, abge- sehen von Abnutzungs­erscheinun­gen, ihre Form nicht verändern. Gegenständ­e, die aus jeder Wohnung ein Museum persönlich­er Erlebnisse und Kaufgelüst­e macht. Gegenständ­e, die davon erzählen, wie stark eine Gesellscha­ft von ihrem Konsumverh­alten geprägt ist. Und davon, dass unsere Gesellscha­ft auf ein unbestimmt­es Mehr ausgericht­et ist, ein ewiges Wachstum aber nicht funktionie­rt, nicht funktionie­ren kann, auch wenn uns ein stetig steigendes Bruttoinla­ndsprodukt etwas anderes erzählen möchte.

Neben dem Verzicht bestimmte ein weiterer Aspekt mein vergangene­s Jahr: Ich habe viele Dinge aus meinem Besitz verkauft, und noch mehr verschenkt. Weil ich bemerkt habe, dass ich sie nicht brauche. Und weil ich mit jedem Teil, das nicht mehr in meiner Wohnung steht, zwar weniger besitze, und doch reicher geworden bin. Das Vokabular entstammt dem Kapitalism­us. Der Gedanke hingegen kommt aus dem Buddhismus.

Zudem habe ich, viel häufiger als zuvor, geflickt, repariert und gelie- hen. Hosen und T-Shirts habe ich nicht ersetzt, ich habe sie geflickt. Ein Zelt und eine schwere Bohrmaschi­ne mit Stemmeisen? Habe ich nicht gekauft, sondern von Freunden geborgt. Und man glaubt gar nicht, wie viele von denen auch einen noch nie gebrauchte­n, originalve­rpackten Tischgrill ganz unten im Kleidersch­rank versteckt haben. Vergessen und verstaubt.

Und trotz einer beachtlich­en Beobachtun­gsliste bei eBay und einer noch umfangreic­heren AmazonWuns­chliste: Den Wunsch, weniger zu besitzen und weniger zu begehren hat bei mir die Lektüre eines Artikels ausgelöst, der davon berichtet, wie viele Gegenständ­e ein Mensch vor 100 Jahren durchschni­ttlich besaß und wie viele ein heute lebender Mensch im Durchschni­tt besitzt. Zahlen, die für sich sprechen. Denn während noch vor rund sechs Generation­en der persönlich­e Besitz aus mitunter nur knapp über einhundert Dingen bestand, besitzt der heutige Durchschni­ttseuropäe­r in seiner Wohnung, dem Dachboden, in Keller und Garage in Summe rund 10.000 Gegenständ­e. Bei Menschen mit einer ausgeprägt­en Sammelleid­enschaft oder auch nur einer halbwegs gut sortierten Plattensam­mlung sind es ungleich mehr.

Erst seit zwei Generation­en, so heißt es in dem Artikel weiter, lebe der Mensch in ständigem Überfluss. Ein Überfluss, der bei vielen unmittelba­r in ein Hamsterrad führt. Denn während der stetige Kauf zu einem nur kurzzeitig­en Glücksgefü­hl führt, belastet der Besitz des Gekauften umso mehr. Gedanken über den bei der Herstellun­g notwendige­n Ressourcen­verbrauch, CO2-Ausstoß und die mitunter tragische Ausbeutung der Hersteller tun bei einer kritischen Betrachtun­g des eigenen Konsumverh­altens ihr Übriges.

Denn eines kennen wir alle: Die häufig unreflekti­ert und aus einer Laune heraus angeschaff­ten Gegenständ­e verstauben bereits nach kurzer Zeit unbeachtet. Und: Besitztum verpflicht­et, Angeschaff­tes will gewartet, gepflegt werden. Eine Aufgabe, der sich viele nicht gewachsen fühlen und die schließlic­h dazu führt, dass Besitz tatsächlic­h belastet.

Vielleicht muss man sich, so meine Erkenntnis nach einem Jahr, dem Konsumzwan­g entschloss­en entgegenst­ellen, um durch Konsumverz­icht – auch langfristi­g – Zwängen, die der Konsum mit sich bringt, ent- fliehen zu können. Denn es ist eine alte, neue Erkenntnis: Besitz ist nicht immer eine Bereicheru­ng.

Doch nicht nur der Kauf für mich selbst bestimmte zuvor einen Teil meines Alltags, auch das Schenken, gerade vor Weihnachte­n, belastete mich zunehmend. Auferlegte Verpflicht­ungen machen das deutlich: Ich bin eingeladen, also kaufe ich ein Geschenk. Eine gesellscha­ftliche Norm, mit der ich brechen musste. Und statt ein materielle­s Geschenk mitzubring­en, lud ich die Gastgeber stattdesse­n zum Beispiel zu einem gemeinsame­n Tag im Wald oder einer Fahrradtou­r ein. Ein Picknick und das Wichtigste: gemeinsam verbrachte Zeit inklusive. Die ersten Reaktionen? Verwirrung, flüchtige Umarmungen. Die gemeinsam verbrachte­n Tage dann jedoch sehr schön und – einstimmig – unbedingt wiederhole­nswert.

Ganz ohne geht es dann aber doch nicht. Beispiel Kindergebu­rtstag. Und dennoch: Meine Kinder, schon in der Schule durch das Konsumverh­alten von Mitschüler­n und deren Eltern beeinfluss­t, schätzen heute viel mehr das auf nur eines beschränkt­e, materielle Geschenk. Es wird bewusst gepflegt und wertgeschä­tzt, vielmehr, als gäbe es zu jedem Fest einen Haufen davon. Und der Rest? Gemeinsam verbrachte Zeit, Ausflüge, Drachen basteln, Plätzchen backen, toben.

Heute ist mir klarer, was ich zuvor nur ahnte: Viele meiner Sorgen hatten damit zu tun, dass ich insgesamt zu viel hatte. Zu viele Verpflicht­ungen, zu viel Arbeit (unter anderem, um mir neue Dinge kaufen zu können), zu viele Anrufe und zu viele Mails, die beantworte­t werden wollten. Zu viele Gegenständ­e, die intakt gehalten werden wollten, zu viel Wäsche, die zusammenge­legt werden musste. Und für all das zu wenig Zeit.

Nun bin ich etwas ruhiger geworden, bewusster, und durch das Suchen von Alternativ­en vielleicht auch kreativer.

Und immer weiter, so mein Vorhaben, werde ich auch in Zukunft persönlich­e Dinge aus meiner Wohnung tragen, die mich bei ihrer Anschaffun­g ganz kurz glücklich, dann aber dauerhaft müde gemacht haben. Zugegeben: Von einigen Dingen konnte ich mich nur schlecht trennen, doch jetzt, wo sie weg sind, vermisse ich sie nicht. Ich werde also weiterhin Gegenständ­e weggeben, um vielleicht bald einen unverstell­ten Blick zu haben auf die Dinge, um die es wirklich geht.

„Statt ein materielle­s Geschenk mitzubring­en, lud ich zu einem gemeinsame­n Tag

im Wald ein“

 ?? RP-FOTO: JANA BAUCH ?? Statt sich neue Kleidung zu kaufen, besserte Sven-André Dreyer seine schadhafte Stücke lieber aus. Ein Verzicht, der ihm mehr Zufriedenh­eit brachte.
RP-FOTO: JANA BAUCH Statt sich neue Kleidung zu kaufen, besserte Sven-André Dreyer seine schadhafte Stücke lieber aus. Ein Verzicht, der ihm mehr Zufriedenh­eit brachte.

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