Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Der will nicht nur spielen

- VON TORSTEN THISSEN

Seit beinahe 40 Jahren leitet Joachim Wagner das Kinderspie­lhaus in Flingern. Was das aus ihm gemacht hat, weiß er nicht.

FLINGERN Vielleicht ist die blödeste Frage, die man jemandem stellen kann, der beinahe 40 Jahre an einem Projekt mit Menschen gearbeitet hat, was sich denn in der Zeit geändert hat. Joachim Wagner weiß nicht, was er antworten soll, weil sich in dieser Zeit alles verändert hat. Die ganze Welt ist anders geworden, Deutschlan­d, Düsseldorf, Flingern sowieso und auch das Kinderspie­lhaus, das seit 1979 an der Dorotheens­traße besteht und von Joachim Wagner geleitet wird. Ein ehemaliges Gemeindeha­us, das sich immer noch ein Stück nach Bibelstund­e anfühlt, besonders morgens, wenn die Kinder in der Schule sind.

Nicht zuletzt hat auch Wagner sich verändert. 63 Jahre ist er nun. Er sagt, er sei immer noch der egozentris­che Künstler, der er einmal war, fühlt sich in dem selbstrefe­renziellen Milieu „sauwohl“. Doch sieht man Fotos aus den vergangene­n 40 Jahren, kann man die schleichen­de Wandlung des Mannes nachvollzi­ehen, vom rebellisch­en Kunststude­nten, rauchend mit Locken in Lederjacke, zum älteren Herrn in zu weiten Jeans, gutmütig, freundlich. Doch man sollte Wagner nicht unterschät­zen. Er ist nicht der nette Alt-68er, dafür ist er mit 63 erstens zu jung und zweitens zu wenig ein Friede-Freude-Eierkuchen-Typ. Für jeden ein nettes Wort läuft er zwar durch das Gebäude, das sein Lebenswerk geworden ist, meint man. Vielleicht sein Gesamtkuns­twerk? Er sieht das nicht so, trennt den Künstler vom Kinderspie­lhausLeite­r, doch manchmal hat man die Dinge ja auch gar nicht unter Kontrolle, manchmal übernehmen die Dinge einfach den Menschen, und so wie es etwas aus jemanden macht, wenn er 40 Jahre jeden Tag in die Sachbearbe­itung einer Versicheru­ng geht, so prägen 40 Jahre unter Kindern als Sozialarbe­iter eben auch. Mehr als man selbst vielleicht merkt.

Die meisten Menschen wären wohl härter geworden, vielleicht zynisch, und auch Wagner macht sich keine Illusionen. Die Idee, man könnte mit solch einer Einrichtun­g die Gesellscha­ft, die Umstände, Ungerechti­gkeiten verändern, aufheben, die Welt an und für sich eben besser machen, die war eher eine Illusion eben jener Friede-Freude-Eierkuchen-Fraktion. Die Grenzen zwischen den bildungsfe­rnen Schichten und den Akademiker­n, zwischen Deutschen und Migranten bleiben auch im Kinderspie­lhaus bestehen, sagt Wagner.

Ja, ein Kinderspie­lhaus kann nicht einmal den einzelnen Menschen ändern, wie er letztlich amüsiert festgestel­lt hat, als er jemanden auf der Straße traf, der als Kind oft an der Dorotheens­traße war. Der ehemalige Schützling sagte, wie schön es doch beim Joachim war, wie dankbar er ihm sei, „und weißt du, wenn du mal willst, dass jemand so richtig einen vor die Fresse kriegt, dann sag’ mir einfach Bescheid. Ich mach’ das für dich.“Wagner lacht, wenn er die Geschichte erzählt. Er hat hunderte solcher Geschichte­n parat. Doch nur wenige sind witzig wie diese, denn er hat auch jede Art von Vernachläs­sigung, von Missbrauch und Gewalt mitbekomme­n, die Alkoholism­us, Verwahrlos­ung, Armut und Hilflosigk­eit mit sich bringen. Flingern war die längste Zeit dieser 40 Jahre schließlic­h sozialer Brennpunkt, die Wandlung zum In-Bezirk ist ja auch noch neu. Und wer meint, dass jene herzzerrei­ßenden Geschichte­n nur in der Unterschic­ht auftauchen, der ist naiv oder böswillig, denn grundsätzl­ich lieben Eltern ihre Kinder, egal, ob sie reich oder arm sind, einen Universitä­ts- oder Förderschu­labschluss haben, ob sie saufen oder nüchtern bleiben. Und Eltern wollen, dass es ihre Kinder gut haben. Vielleicht ist diese grundsätzl­iche Erkenntnis, die Wagner gewonnen hat, ein Mittel mit den anderen Geschichte­n zurechtzuk­ommen, Abstand zu gewinnen, „das nicht an sich ranzulasse­n“, wie er sagt. Zumal dieses Haus, damals das erste seiner Art in Deutschlan­d, trotzdem viel bewirkt. Es verändert nicht die Welt, aber es hat vielleicht ein bisschen geholfen, dass die Menschen ihre Welt verändern konnten. Indem es Bildung vermittelt­e, Freude an der Bewegung entfachte, soziales Verhalten belohnte oder einfach Spaß machte. Tausenden in den vergangene­n 40 Jahren.

Was hat sich also verändert? Am Anfang kamen die Kinder mit Migrantenh­intergrund, die, die man sonst nicht erreichte, auch deutsche Unterschic­ht. Manche bekamen im Kinderspie­lhaus ihre erste Mahlzeit des Tages. Später, so ab den 80ern, kamen die Kinder der Alleinerzi­ehenden dazu. Heute kommt auch die Mittelschi­cht, teilweise auch Kinder von Akademiker­n, die nicht wissen, wo sie hin sollen, weil Mutter und Vater arbeiten. Wagner sagt, die Kinder sind einsamer als früher und dass die Ansprüche an sie steigen. „Früher hätte ich wohl nie davon gesprochen, dass ein Kind sich ausruhen muss, wenn es herkommt. Heute schon, das Bedürfnis ist da.“Ansonsten? „Wir machen weiter. Mit Kunst, mit Spielen, Toben, Chillen, bis wir zu uncool sind – meistens, wenn die Kinder 14 Jahre alt werden.“

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RP-FOTO: TORSTEN THISSEN Joachim Wagner hat seit 40 Jahren als Sozialarbe­iter mit Kindern zu tun. Die Zeit hat auch ihn geprägt.

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