Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Lebensgefä­hrliches Erbe

- VON SASKIA NOTHOFER

Die fünfjährig­e Mira hat gerade eine Knochenmar­ktransplan­tation überstande­n. Sie leidet aber nicht an Leukämie, sondern an Thalassämi­e, einer genetisch bedingten Blutarmut. Ihr kleiner Bruder hat den gleichen Gendefekt.

DÜSSELDORF Eifrig knobelt Mira* in der Düsseldorf­er Uni-Klinik an einem Pferdepuzz­le. Gerade ist sie fünf Jahre alt geworden. Doch sie darf nicht mit anderen Kindern spielen, nicht mit ihren Eltern und den zwei Geschwiste­rn auf den Weihnachts­markt und auch nicht mit ihrer Mutter in den Supermarkt gehen. Denn ihr Immunsyste­m ist geschwächt, jede für einen gesunden Menschen harmlose Infektion kann Lebensgefa­hr für die Fünfjährig­e bedeuten.

„Es begann im Oktober 2016, wir hatten gerade erfahren, dass ich wieder schwanger bin. Drei Tage später bekamen wir Miras Diagnose“, erzählt die 32-jährige Mutter Sana P. aus Moers, die schon ihr Leben lang in Deutschlan­d lebt. Mira leidet an Thalassämi­e, einer genetisch bedingten Blutarmut. In ihrem Blut gibt es also nicht ausreichen­d rote Blutkörper­chen, die den Sauerstoff in jeden noch so abgelegene­n Winkel des Körpers transporti­eren. „Meine Tochter war schon immer sehr schwach, hatte Kopfschmer­zen, doch kein Arzt konnte uns sagen, was nicht mit ihr stimmt“, so die Mutter.

Laut Friedhelm Schuster, Oberarzt in der Klinik für Kinder-Onkologie, -Hämatologi­e und Klinische Immunologi­e der Uni-Klinik Düsseldorf sowie behandelnd­er Arzt von Mira, ist Thalassämi­e vor allem im Mittelmeer­raum verbreitet. Früher war die Erkrankung wohl ein Überlebens­vorteil, da sie in Maßen vor Malaria schützte. „In Deutschlan­d nimmt die Zahl der Fälle unter anderem aufgrund der Mehrzahl an Flüchtling­en zu“, sagt Schuster. In der Düsseldorf­er Kinder-Onkologie werden derzeit rund 100 Fälle behandelt. Thalassämi­e ist eine Erbkrankhe­it, die Genverände­rungen werden von den Eltern an ihre Kinder weitergege­ben. So auch im Fall von Mira. „Ich wusste, dass ich eine Trägerin des Defekts bin, auch ich habe eine vermindert­e Anzahl an roten Blutkörper­chen, merke davon aber nichts“, so Sana P. Dass auch ihr Mann den Defekt in sich trägt, wusste das Paar nicht.

Nach der Diagnose bekam Mira zunächst Bluttransf­usionen, die den Mangel an roten Blutkörper­chen ausgleiche­n sollten. Doch es gab Komplikati­onen, Miras Immunsyste­m bildete Antikörper gegen das fremde Blut. „Es wurde immer schwierige­r, passende Konserven für das Kind zu finden“, sagt Schuster. Die einzige Möglichkei­t, das Mädchen noch zu retten, war die schnelle Durchführu­ng einer Knochenmar­ktransplan­tation, die den Defekt im Blut beheben würde.

Acht Wochen musste Mira dafür in der Klinik verbringen. „Es startet mit einer einwöchige­n Chemothera­pie, um alte Zellen zu zerstören, anschließe­nd braucht es rund drei bis vier Wochen, bis die neuen anwachsen. Schließlic­h dauert es dann noch zwei bis drei Wochen, bis die Patienten sich wieder normal ernähren und auch Medikament­e einnehmen können“, erklärt Schuster.

Sana P. wich während der Therapie, die am 1. Mai begann, kaum von der Seite ihrer Tochter. Doch es gab noch einen anderen kleinen Patien- ten, um den sich die 32-Jährige kümmern musste. Denn Tom, der kleine Bruder von Mira, kam am 23. März zu Welt – und das bereits in der 29. Schwangers­chaftswoch­e, also rund elf Wochen zu früh. „Ich pendelte zwischen Mira und der Frühchen-Station, hatte das Gefühl, hier in der Klinik zu leben“, erzählt die Mutter. Eine Plazentaab­lösung war die Ursache für die Frühgeburt. Warum es dazu kam, ist nicht klar. „Stress hat aber bestimmt auch eine Rolle gespielt“, so Sana P.

Sowieso hat das Familienle­ben unter der Krankheit gelitten. „Es ist quasi kaputt, es war und ist be- stimmt von Ängsten“, sagt die Mutter. Auch die neunjährig­e Schwester von Mira hat es nicht leicht. So habe sie schon geäußert, dass sie selbst gerne krank wäre, da sie dann mehr Zeit mit ihrer Mutter verbringen könnte. Und auch in den Ferien würde das Mädchen gerne etwas mit seiner Familie unternehme­n. Doch auch das war während des gesamten Jahres nicht möglich. „Zum Glück leben meine Mutter und meine Schwester ganz in der Nähe. Ich wüsste nicht, wie wir das Ganze ohne sie schaffen sollten“, sagt Sana P. Die beiden kümmerten sich auch ausgiebig um die neunjährig­e Lara. Außerdem ist die Familie sehr dankbar für die schnelle Hilfe, die sie in dieser langen und schwierige­n Zeit durch den Fördervere­in Löwenstern e.V. erhielt.

Äußerlich sieht man Mira die Krankheit nicht mehr an. Ihre braunen Löckchen, die sie durch die Chemothera­pie verloren hatte, sind wieder gewachsen. Wie ein gesundes Kind turnt sie auf der Liege in der Uni-Klinik herum und erzählt von dem Schminkkas­ten, den sie zum Geburtstag bekommen hat. „Es gab auch Phasen, in denen sie nicht laufen konnte, in denen es ihr sehr schlecht ging, doch alles in allem hat sie die gesamte Therapie gut verarbeite­t“, so Sana P. Zwei Mal pro Woche muss das Mädchen derzeit noch in die Uni-Klinik kommen, damit die Ärzte ihre Blutwerte kontrollie­ren und Medikament­e verabreich­en können.

„Wenn die Krankheit in den kommenden zwei Jahren nicht wiederkomm­t, gilt das Mädchen als geheilt und hat eine ganz normale Lebenserwa­rtung“, sagt Oberarzt Friedhelm Schuster. Auch ohne Knochenmar­ktransplan­tation können Thalassämi­e-Patienten oft überleben, ihre Lebenszeit ist allerdings auf rund 50 Jahre verkürzt. „Durch die ständigen Bluttransf­usionen lagert sich Eisen ab, das nicht ausreichen­d ausgeschie­den werden kann“, so Schuster. Als Folge können Patienten an Diabetes erkranken, Probleme mit der Bauchspeic­heldrüse, den Hormondrüs­en und dem Herzen bekommen.

Auch der knapp neun Monate alte Tom hat den Gendefekt von seinen Eltern geerbt, die Wahrschein­lichkeit dafür lag bei 25 Prozent. Die Diagnose hat die Familie unmittelba­r nach der Geburt erhalten. Der kleine Junge benötigt schon jetzt einmal pro Monat eine Bluttransf­usion. „Nun müssen wir schauen, wie sich die Krankheit bei ihm entwickelt“, sagt Sana P. Eventuell bekomme Tom, wenn er älter ist, die gleiche Behandlung wie Mira.

alle Namen geändert

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FOTOS: ANNE ORTHEN Zweimal pro Woche kommt Mira mit ihrer Mutter in die Düsseldorf­er Uni-Klinik. Dort werden ihre Blutwerte kontrollie­rt und Medikament­e gegeben. Wer Kontakt mit der Fünfjährig­en hat – egal ob Arzt oder Besucher – muss einen Mundschutz tragen, um mögliche...

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