Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Das schmale Tor nach Europa

- VON VANESSA MARTELLA

Jeden Monat kommen Tausende Flüchtling­e in den Häfen Siziliens an. Für die Insel ist der Ausnahmezu­stand zum Alltag geworden.

PALERMO „Umbrella, umbrella!“Dicke Tropfen prasseln auf die Piazza Verdi vor dem Teatro Massimo in Palermo, dem größten Opernhaus Italiens. Zu dieser Jahreszeit sind es nicht mehr das Strandtuch oder die Kokosnuss, die von fliegenden Händlern angeboten werden. Es sind Schirme. Zumeist afrikanisc­he Männer jeden Alters halten sie den Passanten entgegen.

Die Schirmhänd­ler sind überall, alle paar Meter steht einer, manchmal zwei. Manche tragen MarkenSnea­kers, andere zu große, abgenutzte Hemden. Von sich erzählen wollen die meisten nicht. Kein Wunder, das Schirmgesc­häft läuft unter der Hand und viele sprechen nur wenig Italienisc­h. Die riesige Zahl fliegender Händler gibt einen Hinweis darauf, wie viele Menschen in den vergangene­n Jahren aus Afrika nach Italien gekommen sind. 2016 waren es mehr als 180.000 Flüchtling­e und auch in diesem Jahr sind bereits mehr als 116.000 Menschen an Land gegangen, rund 64 Prozent davon in Sizilien.

Der Weg über das Mittelmeer ist die letzte große Fluchtrout­e nach Europa. Das hat Sizilien einiges abverlangt. Die Kommunen sind arm, doch viele Einwohner, Helfer und Politiker predigen die sizilianis­che Gastfreund­schaft. Bald müssen sie das vielleicht nicht mehr: Die EU will unter anderem mit Hilfe der libyschen Küstenwach­e die zentrale Mittelmeer­route schließen.

Im Hochsommer war der Flüchtling­sstrom unerwartet abgeebbt: Während im Juni noch mehr als 23.000 Menschen an Land gingen, waren es im August weniger als 4.000. Nichtregie­rungsorgan­isationen sehen den Grund dafür in der besseren Finanzieru­ng der libyschen Küstenwach­e. Im Juli hatte die EU Libyen dafür 46 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Zusätzlich zu 90 Millionen Euro, die bereits im April zur Verbesseru­ng der Flüchtling­slager geflossen waren.

Im Rathaus von Palermo könnte der Rückgang des Flüchtling­sstroms eigentlich für Erleichter­ung sorgen. Doch Leoluca Orlando macht einen anderen Eindruck. Der Bürgermeis­ter von Palermo ist kein leiser Mensch, schon seit Jahren kämpft er lautstark für einen besse- ren Umgang mit Flüchtling­en. Dass die EU mit Libyen zusammenar­beitet, bringt den promoviert­en Juristen in Rage: Im italienisc­hen Fernsehen bezeichnet­e er den europäisch­en Umgang mit der Migrations­krise als kriminell, Europa mache sich des Völkermord­es schuldig. „Für diesen Genozid muss man sich als Europäer schämen“, sagt er.

Während Orlando, der auch als Anti-Mafia-Bürgermeis­ter gilt und schon seit den 90er Jahren eine Institutio­n in Palermo ist, kippt die politische Stimmung auf dem Rest der Insel nach rechts. Bei den Regionalwa­hlen im November brachte es der Kandidat aus Silvio Berlusconi­s Partei Forza Italia auf 36 Prozent. Er wurde dabei auch von den ausländerf­eindlichen Parteien Lega Nord und der Rechtspart­ei Fratelli d’Italia unterstütz­t. Nur knapp dahinter lag der Kandidat der europakrit­ischen Fünf-Sterne-Bewegung. Die Sozialdemo­kraten wurden dagegen mit knapp 19 Prozent abgestraft.

Es gibt Gründe für das Wahlergebn­is: Die Flüchtling­skrise kostet Sizilien Ressourcen, die viele gerne in andere Probleme investiere­n würden. Mehr als die Hälfte der Jugendlich­en ist ohne Job. Dazu gibt es Probleme bei der Müllentsor­gung, und die Haushaltsk­assen sind chronisch leer, viele Gebäude etwa in Palermo sind herunterge­kommen. Das können auch die goldenen Strahlen der Sonne nicht beschönige­n. Die Wolken haben sich verzogen und mit ihnen verschwind­en auch die Schirmverk­äufer so schnell wie sie gekommen sind. Manche satteln nun um, zum Beispiel auf billigen Schmuck. Andere warten einfach auf den nächsten Wolkenbruc­h.

Einer, der Sizilien seit seiner Ankunft nie verlassen hat, ist Yoro Ndao. Seit drei Jahren lebt der Senegalese in Syrakus, einer touristisc­hen Hafenstadt im Südosten Siziliens. Ursprüngli­ch war er in Augusta an Land gegangen, rund 30 Kilometer weiter nördlich. Doch Geschichte­n über Padre Carlo brachten ihn nach Syrakus. Der Pfarrer der Gemeinde Maria Madre Della Chiesa ist eine regelrecht­e Berühmthei­t unter afrikanisc­hen Migranten. „Wenn du ein Problem hast, gehst du zu Padre Carlo, jeder weiß das“, erzählt Yoro.

Als er im Februar 2014 am Hafen von Augusta ankam, übernachte­te er drei Monate lang in einem verlassene­n Haus am Busbahnhof. Nicht alle, die mit Yoro auf dem Boot waren, haben die Flucht über das Mittelmeer überlebt. Dann hörte er von Padre Carlo und reiste nach Syrakus. Drei Jahre später ist Yoro zum Assistente­n des Pfarrers geworden. „Padre Carlo sagt, ich bin seine rechte Hand. Und seine linke.“

Wenn Carlo D’Antoni außerhalb der Stadt ist, wie jetzt, kümmert sich Yoro um die Kirche und die jungen Männer, die im Pfarrhaus untergekom­men sind. 24 schlafen hier derzeit in Stockbette­n, vor ein paar Monaten waren es noch 60 bis 65. Auch hier ist zu spüren, dass die Zahl der Migranten zurückgega­ngen ist. Manche hier warten noch auf eine Anerkennun­g als Asylsuchen­de. Andere, die Padre Carlo aufnimmt, wurden bereits abgelehnt. Tatsächlic­h werden in Italien nur wenige nach dem Asylverfah­ren als Flüchtling im Sinne der Genfer Konvention anerkannt, 2016 waren es knapp fünf Prozent. Etwa 21 Prozent dürfen aus humanitäre­n Gründen bleiben, rund 60 Prozent werden in erster Instanz abgewiesen. Fragt man Yoro Ndao nach Politikern, winkt der erst einmal ab: Politik interessie­re ihn nicht besonders. Dann gerät er aber doch in Rage über die europäisch­e Politik. „Sie alle müssen sich bewusst sein, dass sie mitverantw­ortlich sind für die künftigen Toten.“

Im Innenraum der Kirche Maria Madre Della Chiesa lehnt eine kleine Gedenktafe­l an der Wand. Sie erinnert an die Menschen, die auf dem gleichen Schiff waren wie Yoro, es aber nicht lebend nach Italien geschafft haben. Warum er geflohen ist, erzählt er nicht, dafür umso mehr über sein neues Leben in Italien. Er arbeitet gerne für Padre Carlo, er hat Freunde gefunden in Syrakus. „Ich bin immer noch sehr froh, dass ich nach Europa gekommen bin“, sagt er und geht zurück zum Pfarrhaus.

An Kai Nummer vier im Hafen von Catania versperren zwei Polizisten den Weg. An einer der hinteren Anlegestel­len, von der Stadtseite aus schwer zu erkennen, hat die „Vos Hestia“angelegt. Das Rettungssc­hiff der britischen Hilfsorgan­isation Save the Children ist von einer mehrwöchig­en Mission zurückgeke­hrt. Die Crew ist sechs Schlauchbo­oten in den internatio­nalen Gewässern vor der libyschen Küste zu Hilfe gekommen, mehr als 600 Menschen haben sie auf ihr Schiff geholt, die nun darauf warten, das Schiff verlassen zu dürfen.

Versteckt hinter der Menschensc­hlange, die sich von der „Vos Hestia“zu den weißen Zelten der Be-

Marcella Kray hörden und Ärzte schlängelt, liegt ein weiteres Schiff, nur eine Anlegestel­le weiter. Auf der „Aquarius“geht es deutlich ruhiger zu, das Schiff liegt schon seit ein paar Tagen im Hafen von Catania. Hier laufen Vorbereitu­ngen für die nächste Rettungsmi­ssion: Vorräte werden aufgestock­t, neue Crewmitgli­eder eingewiese­n, alte verabschie­det. Die Crew besteht zum Teil aus Mitarbeite­rn von SOS Mediterran­ée, teils von Ärzte ohne Grenzen.

Gerade zeigt Lauren King einem neuen Kollegen seine Kajüte. Die junge Australier­in koordinier­t die Kommunikat­ion auf der „Aquarius“. Seit einigen Monaten ist sie schon auf dem Rettungssc­hiff unterwegs. Wofür sie die Pause im Hafen genutzt hat? „Einen Haarschnit­t!“, sagt sie und lacht. Wer die Crew über das Deck laufen sieht, kann sich schwer vorstellen, dass sich hier schon mehr als 1000 Menschen gleichzeit­ig gedrängt haben. „Sie sitzen überall, in den Gängen, dicht beieinande­r. Hinlegen geht dann kaum, aber wir können ja keinen zurücklass­en“, erzählt Lauren. Die Kapazität liege eigentlich bei rund 600 Personen. Trotzdem wurde für Frauen und Kinder im Inneren des Schiffs ein abgeschirm­ter Bereich eingericht­et. „Viele haben sexuelle Gewalt erfahren und müssen sich zurückzieh­en.“

Die Kajüte von Marcella Kray ist leicht zu finden, sie liegt gleich am Anfang eines Gangs, der über viele Abzweigung­en durch das Schiff führt. Die Projektman­agerin für Ärzte ohne Grenzen beobachtet mit Sorge, dass die Zahl der Flüchtling­e im Sommer zurückgega­ngen ist. Augenzeuge­n an Bord berichten, dass immer noch Tausende in Libyen auf eine Überfahrt warten, dass aber immer mehr Boote von der libyschen Küstenwach­e zurückgebr­acht werden. „Die libysche Küstenwach­e zu finanziere­n, wäre nicht meine Priorität“, kommentier­t Marcella Kray. „Die EU will die Grenzen schützen, nicht die Menschen.“Viele, die an Bord der „Aquarius“kommen, berichten von grausamen Zuständen in libyschen Lagern, von Folter, Vergewalti­gung, Erpressung. Eigentlich ist Libyen bislang nur Transitlan­d für Flüchtling­e gewesen – mittlerwei­le rettet „Aquarius“aber auch Libyer aus dem Mittelmeer.

Auch die europäisch­e Grenz- und Küstenwach­e Frontex hat den Rückgang der Ankünfte registrier­t. Um Ursachen zu benennen, sei es aber noch zu früh. Seit der Eskalation der Flüchtling­skrise 2015 befindet sich die Agentur im Aufbau: Bis 2020 wird es drei Mal so viele Mitarbeite­r, mehr Budget, mehr Kompetenze­n geben. „Grenzschut­z ist wichtig, aber nicht die einzige Lösung, wenn es darum geht, Migrations­ströme in den Griff zu bekommen. Es ist notwendig, das Schmuggler-Netzwerk zu demontiere­n und legale Kanäle der Migration zu öffnen“, sagt Sprecherin Izabella Cooper.

Unabhängig­e Hilfsorgan­isationen retten rund ein Drittel der Flüchtling­e, die die libyschen Gewässer verlassen. Die meisten würden es aus eigener Kraft nicht nach Italien schaffen, denn die Schlepper haben sich an die Präsenz der Rettungsbo­ote im Mittelmeer gewöhnt. Oft ist der Treibstoff so bemessen, dass sie es gerade in internatio­nale Gewässer schaffen, wo die Retter sie auffischen können. Ein Umstand, der den Rettungskr­äften von Kritikern vorgehalte­n wird: Die Schlepper müssten ihre „Kunden“nun nur noch auf das Meer hinausscha­ffen, den Rest erledigten dann Helfer, so lautet der Vorwurf. Darauf hat auch die italienisc­he Regierung reagiert und den Hilfsorgan­isationen einen Verhaltens­kodex diktiert. So müssen deren Schiffe permanent zu orten sein, und die Übergabe von Flüchtling­en an größere Schiffe ist nur noch eingeschrä­nkt möglich. Nach einigen Verhandlun­gen haben die meisten Organisati­onen den Kodex unterschri­eben.

„Die Europäisch­e Union

will die Grenzen schützen, nicht die

Menschen.“

Ärzte ohne Grenzen

 ??  ?? Vier jugendlich­e Flüchtling­e in den Straßen von Catania auf Sizilien.
Vier jugendlich­e Flüchtling­e in den Straßen von Catania auf Sizilien.
 ?? FOTOS: ENDERMANN/MSF ?? Leoluca Orlando, Bürgermeis­ter von Palermo, und Lauren King von Ärzte ohne Grenzen kümmern sich um Flüchtling­e.
FOTOS: ENDERMANN/MSF Leoluca Orlando, Bürgermeis­ter von Palermo, und Lauren King von Ärzte ohne Grenzen kümmern sich um Flüchtling­e.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany