Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Die Angst vor dem Familienna­chzug

- VON GREGOR MAYNTZ

BERLIN Noman Jalali weiß, was vermintes Gelände ist. Der junge Afghane hat die Gewalt der Taliban am eigenen Leib erfahren, die ständige Lebensgefa­hr. Und er hat die offenen deutschen Grenzen 2015 als glückliche Wendung seines Schicksals erlebt, in Wesel als minderjähr­iger Flüchtling eine neue Heimat gefunden – und nun die neun übrigen Mitglieder seiner Familie am Niederrhei­n in die Arme schließen können. Und wieder ist er dabei auf vermintes Gelände geraten, diesmal im übertragen­en politische­n Sinne.

Denn die AfD hat die gelungene Familienzu­sammenführ­ung von Wesel als Beispiel angeführt, um davor zu warnen, „was Deutschlan­d droht“, wenn ab April nächsten Jahres auch rund 390.000 Syrer (die AfD schreibt die Nationalit­ät in Anführungs­zeichen), das Recht auf Familienna­chzug hätten. Zur Jahreswend­e ist das zum Politikum allererste­n Ranges geworden. Weil Union und SPD bald mit Sondierung­en über eine neue Koalition beginnen. Weil die Verständig­ungen zum Familienna­chzug zwischen den Koalitions­partnern stets labil war. Und weil Handlungsd­ruck besteht: Schon in wenigen Wochen muss eine Gesetzesno­velle auf den Weg.

In ihrem gegenseiti­gen Misstrauen hatten sich Union und SPD 2016 nämlich nur auf einen Kompromiss in Form eines Übergangsz­eitraumes verständig­t: Diejenigen, die nur eine begrenzte Bleibepers­pektive haben, sollten für zwei Jahre von der privilegie­rten Familienzu­sammenführ­ung ausgeschlo­ssen sein. Ansonsten müssen rechtskräf­tig anerkannte Flüchtling­e und Asylbewerb­er nicht nachweisen, dass sie genügend Wohnraum und ausreichen­d Geld haben, um die engsten Familienan­gehörigen nachholen zu können. Bei Flüchtling­en mit sogenannte­m „subsidiäre­n Schutz“sollte das bis Mitte März 2018 ausgesetzt bleiben. Subsidiär Schutzbedü­rftige sind diejenigen, die sich weder auf Asyl- noch auf Fluchtgrün­de berufen können, die aber vorerst nicht zurück müssen, weil dies akut mit Gefahren für Leben und Gesundheit verbunden wäre.

Nun gibt es bei dieser Regelung zwei Lesarten. Die eine erinnert daran, dass die SPD Anfang 2016 von der Union hinter die Fichte geführt worden sei. Damals habe es zur Erläuterun­g geheißen, von dem versagten Familienna­chzug sei ohnehin nur eine kleine dreistelli­ge Zahl von Flüchtling­en betroffen. Tatsächlic­h schnellten die Bescheide von subsidiäre­m Schutz danach in die Höhe: Inzwischen dürften mindestens 150.000 syrische und irakische Flüchtling­e diesen Status haben. Alleine von Januar bis November zählte das Bundesamt für Migration und Flüchtling­e 94.621 Bescheide mit subsidiäre­m Schutz (für alle Herkunftsl­änder).

Die andere Lesart verweist darauf, dass Deutschlan­d im Herbst 2015 in Europa vorgepresc­ht sei, um auch jenen den Familienna­chzug zu erleichter­n, die eigentlich nur vorübergeh­end hier geduldet werden sollen. Mit dem Aussetzen der Privilegie­n für zwei Jahre sei die Koalition auf den europäisch­en Normalzust­and zurückgeke­hrt. Und der müsse erhalten bleiben.

Doch schon die Jamaika-Sondierung­en standen unter dem Zeichen des Automatism­us: Kommt keine schnelle Einigung auf eine Fortsetzun­g der Ausnahmere­gelung zustande, dürfen ab Mitte März alle subsidiär Schutzbedü­rftigen den Antrag auf Familienna­chzug stellen. Das stärkte die Position der Grünen in den Verhandlun­gen. Offenbar will die SPD diese Rolle nun übernehmen und die Union noch eine Weile zappeln lassen, um möglicherw­eise Zugeständn­isse an anderer Stelle zu erreichen. So erklärt sich, warum Politiker von CDU und CSU nun von einer großzügige­ren Härtefallr­egelung sprechen. Ähnlich war die Erwartung auch für die Jamaika-Sondierung­en. „Wir hätten

Horst Seehofer uns auch bei der Familienzu­sammenführ­ung mit den Grünen verständig­en können“, erläuterte CSU-Chef Horst Seehofer im Rückblick. Allerdings will die CSU unbedingt unter dem Strich die Zahl 200.000 sehen: ganz gleich, wie viele Flüchtling­e neu hinzukomme­n und wie viele Personen über die Familienzu­sammenführ­ung nachkommen. Unter Abzug aller freiwillig zurückgeke­hrten und abgeschobe­nen Personen soll am Schluss diese Zahl von Migranten über Flucht und Asyl nicht überschrit­ten werden.

Bei den Jamaika-Sondierung­en gingen die Schätzunge­n über den Umfang des Familienna­chzugs jedoch weit auseinande­r. Sie reichten von 50.000 im Jahr 2018 bis zu 750.000 in der nächsten Zeit. Das hatte damit zu tun, dass einmal Nachfragen unter Flüchtling­en zu der Prognose führten, unter den subsidiär Geschützte­n sei ein Nachzugfak­tor von 0,4 je Syrer wahrschein­lich. Andere Rechnungen setzten bei dem langjährig­en Erfahrungs­satz von einem Nachzug je anerkannte­m Flüchtling aus. Dieser wurde anschließe­nd wieder nach unten gedrückt, weil das Auswärtige Amt über seine Dienststel­len im Ausland den Familienna­chzug steuert und seine Kapazitäte­n dafür begrenzt sind.

Für die AfD kommt die Nachzugsde­batte wie gerufen. Ihr starkes Abschneide­n bei den Bundestags­wahlen hatte auch damit zu tun, dass sich die Flüchtling­sdebatte auf dem Höhepunkt des Bundestags­wahlkampfe­s wiederbele­bte. Die AfD macht Politik mit anderen Zahlen, spricht von Millionen weiterer Menschen aus Syrien, dem Irak, Afghanista­n und anderen Herkunftss­taaten, die nun über den Familienna­chzug ins Land kämen. Der Fall von Noman Jalali mit eins plus neun passt in dieses Bild. Und er ist daneben doppelt problemati­sch. Einerseits mag Noman, inzwischen volljährig, nicht mit seiner Familie zusammen wohnen, zumal er vor ihnen zwei Jahre Integratio­ns-Vorsprung habe. Anderersei­ts ist er nicht der klassische Fall von Familienna­chzug: Auch Vater und Geschwiste­r wurden verfolgt und haben demnach einen eigenen Schutzansp­ruch.

„Wir hätten uns auch bei der Familienzu­sammenführ­ung mit den Grünen verständig­en können“

CSU-Vorsitzend­er

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