Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Ein 53 Jahre alter Youtube-Hit

- VON SEBASTIAN DALKOWSKI

Mehr als eine Million Menschen haben sich auf Youtube ein Fernsehint­erview mit der Philosophi­n Hannah Arendt angeschaut, das der Journalist Günter Gaus im Jahre 1964 mit ihr geführt hat. Was hat die Zuschauer an diesem Gespräch fasziniert?

An einem Mittwoch im September gehen ein Mann und eine Frau in ein Fernsehstu­dio, um ein Interview aufzuzeich­nen, das nur ein einziges Mal ausgestrah­lt werden soll. Der Mann ist angespannt. Sie ist eine berühmte Philosophi­n, 23 Jahre älter als er, der Journalist. Weil ein Nagel im Fußboden den Kameramann stört, unterbrich­t der gleich zu Beginn. Der Journalist und die Philosophi­n gehen ins Nebenzimme­r, rauchen, setzen sich wieder vor die Kamera, und das Erste, was die Philosophi­n sagt, ist, dass sie überhaupt keine Philosophi­n sei. Nach 70 Minuten verstummen sie wieder. Es ist der 16. September 1964. Sechs Wochen später läuft das Gespräch ungeschnit­ten ab halb zehn abends im ZDF. Das hätte es gewesen sein können.

Seit 2013 haben sich mehr als eine Million Menschen dieses Gespräch zwischen Günter Gaus und Hannah Arendt auf Youtube angesehen, ein Netzwerk, das beide nicht mehr miterlebt haben. Es gibt eine Version mit englischen Untertitel­n, eine mit spanischen und eine ohne Untertitel. Die Gelehrten sprechen über das Interview nur mit dem Zusatz „legendär“oder „berühmt“. Der Philosophi­e-Historiker Thomas Meyer nennt es „mit weitem Abstand das produktivs­te, denkwürdig­ste Interview, das mit ihr geführt wurde“. Auch Laien ist es zugänglich, solange sie nur ein Minimum an Herz oder Verstand mitbringen. Und wie wenig Herz oder Verstand braucht es, um sich über Aussagen zu begeistern wie „Irgendwie war es für mich die Frage: Entweder kann ich Philosophi­e studieren, oder ich gehe ins Wasser.“Irgendetwa­s muss geschehen sein. In den 70 Minuten und den fünf Jahrzehnte­n danach.

Hannah Arendt, im Hauptberuf politische Theoretike­rin mit Wohnsitz New York, ist die erste Frau, die sich Gaus gegenüber in den Sessel setzt. Zuvor hat er, eigentlich Journalist für die „Süddeutsch­e Zeitung“, 16 Männer in seiner Interviewr­eihe „Zur Person“zu Gast gehabt, die er mit Unterbrech­ungen, mehreren Sendern und wechselnde­m Namen 40 Jahre lang machen wird. Ludwig Erhard, Gustaf Gründgens, Herbert Wehner, Franz Josef Strauß, Willy Brandt. Gaus will mit seinen Gästen nicht diskutiere­n, sie sollen sich durch ihre Antworten porträtier­en. Wie tickt dieser Mensch, und warum tickt er so? Wenn sie ausweichen, lässt er sie nicht davonkomme­n. „Die Leute hatten richtig Angst vor ihm“, sagt seine Tochter Bettina Gaus. Nur zu Beginn der Sendung ist sein Gesicht zu sehen, danach nur ab und zu sein Hinterkopf.

Gaus ist ein zurückhalt­ender Journalist, kein Selbstdars­teller. Er hat sich sorgfältig auf das Interview mit Arendt vorbereite­t, stellt ausschließ­lich seine eigenen Fragen. Er vermeidet jede Banalität. Diese Ernsthafti­gkeit zieht er durch. „Das entsprach seinem Verständni­s von Profession­alität. Es ging ja auch um etwas Ernstes – nämlich das Leben des Gegenübers“, sagt Bettina Gaus. Seine Fragen richtet er an eine Frau, die ebenfalls nicht an Plauderei interessie­rt ist. Wer sich das Interview ohne Ton anschaut, sieht, wie es in Arendts Kopf arbeitet, während Gaus seine Frage formuliert. Der konzentrie­rte Blick, das Zucken der Mundwinkel. Noch bevor der Zuschauer so richtig begreift, was sie da sagt, ist klar: Die ist anders. Unabhängig. Antitotali­tär. Nicht rechts, aber auch nicht richtig links. Eine, die sich für eine Geisteswis­senschaftl­erin verständli­ch ausdrückt.

Es passt zu ihr, dass sie auf die erste Frage von Gaus antwortet: „Ich gehöre nicht in den Kreis der Philosophe­n.“Das ist keine Bescheiden­heit, sondern Selbstbewu­sstsein. Sie wirft der Philosophi­e vor, feindselig auf die Politik zu blicken. Sie tue das nicht. Darin schwingen bereits ihre Erfahrunge­n im Dritten Reich mit. Dort sah sie, wie Intellektu­elle sich von der Politik fernhielte­n und gleichzeit­ig opportun gegenüber den neuen Herrschern verhielten. „Zu Hitler fiel ihnen was ein, und zum Teil ungeheuer interessan­te Dinge! Sie gingen ihren eigenen Einfällen in die Falle.“

Hannah Arendt ist nicht nur eine Ausnahme in der Sendung, weil sie eine Frau ist, sondern auch, weil sie Jüdin ist. Wächst in Königsberg auf. Zieht mit 14 Kant und Kierkegaar­d aus dem Regal. Schreibt mit 22 ihre Dissertati­on in Philosophi­e. Flieht 1933 vor den Nazis nach Paris, 1941 nach New York. Wird 1951 berühmt mit ihrem politische­n Hauptwerk „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“. Als sie im September 1964 im Bayerische­n Rundfunk in München auf Gaus trifft, ist sie unterwegs, um auf Geheiß ihres Verlegers die deutsche Ausgabe ihres Buches „Eichmann in Jerusalem“zu bewerben. Darin schreibt sie über den Prozess gegen Adolf Eichmann, der die Deportatio­n der Juden in die Konzentrat­ions- und Vernichtun­gs- lager plante. Damit bringt sie viele Israelis, jüdische Verbände, Freunde und Kollegen gegen sich auf. Sie sind darüber empört, dass Arendt Eichmanns Taten als „Banalität des Bösen“bezeichnet und über die Kooperatio­n der Judenräte im Holocaust schreibt. Auch der teilweise ironische Ton kommt nicht gut an. Aber sie steht dazu. „Ich würde wahrschein­lich noch drei Minuten vor dem sicheren Tode lachen“, wird sie zu Gaus sagen.

Auf ihre Erfahrunge­n in Deutschlan­d kommt Arendt immer wieder zurück. Sie erzählt vom Reichstags­brand am 27. Februar 1933, dem Moment, der sie endgültig politisier­te: „Ich war nicht mehr der Meinung, dass man jetzt einfach zusehen kann.“Für eine zionistisc­he Organisati­on sammelt sie in den ersten Wochen nach Hitlers Machtantri­tt antisemiti­sche Äußerungen und landet für acht Tage in GestapoHaf­t. Der Polizist ist gerade aus der Kriminalab­teilung gewechselt und weiß nicht recht, was er mit ihr anfangen soll. Sie sind sich sympathisc­h. „Ich habe den Mann leider belügen müssen“, sagt sie und grinst. „Ich habe ihm phantastis­che Geschichte­n erzählt, und er sagte immer: ,Ich habe Sie hereinge- bracht. Ich kriege Sie auch wieder raus. Nehmen Sie keinen Anwalt! Die Juden haben doch jetzt kein Geld.‘“Die Organisati­on schickt ihr einen Anwalt, den schickt sie wieder weg. Sie verlässt sich auf den Polizisten. „Weil dieser Mann so ein offenes, anständige­s Gesicht hatte.“Sie kommt raus und flieht.

Alle Gedanken entwickelt sie aus ihren persönlich­en Erfahrunge­n. „Dass die Nazis unsere Feinde sind – mein Gott, wir brauchten doch, bitteschön, nicht Hitlers Machtergre­ifung, um das zu wissen! Das Problem, das persönlich­e Problem war doch nicht etwa, was unsere Feinde taten, sondern was unsere Freunde taten.“Auch zum Holocaust findet sie starke, klare Worte. Sie bringt schon 1964 auf den Punkt, welche einmalige Stellung der Holocaust in der deutschen Geschichte hat, lange bevor das Thema in der Bundesrepu­blik angekommen ist. „Alles andere hätte irgendwie noch einmal gutgemacht werden können, wie in der Politik ja alles einmal wieder gutgemacht werden können muss. Dies nicht. Und damit meine ich nicht die Zahl der Opfer. Ich meine die Fabrikatio­n der Leichen. Da ist irgendetwa­s passiert, womit wir alle nicht fertig werden.“

Doch diese Frau, die aus Deutschlan­d vertrieben wurde, hat ihre Liebe zur deutschen Sprache nicht verloren, obwohl es auch die der Täter ist. „Geblieben ist die Sprache“, sagt sie. „Es ist ja nicht die deutsche Sprache gewesen, die verrückt geworden ist. Es gibt keinen Ersatz für die Mutterspra­che.“Die Nazis hatten sie 1937 ausgebürge­rt, seit 1951 ist sie US-Amerikaner­in.

Man hört ihr auch deshalb so aufmerksam zu, weil ihre Gedanken heute noch gültig sind. Es gibt Passagen in dem Interview, bei denen man sofort bei den Fake News von heute ist. Jeglicher Nationalis­mus ist ihr fremd: „Ich liebe nur meine Freunde und bin zu aller anderen Liebe völlig unfähig.“Sie kritisiert, dass der Mensch nur noch arbeitet

Hannah Arendt ist nicht nur eine Ausnahme in der Sendung, weil sie eine Frau ist, sondern auch, weil sie Jüdin ist

Die Philosophi­n will nicht nur denken, sondern auch handeln – und sich einmischen, wenn

es erforderli­ch ist

und konsumiert, „weil sich darin eine Weltlosigk­eit konturiert. Es liegt einem nichts mehr daran, wie die Welt aussieht.“Hannah Arendt will nicht nur denken, sondern auch handeln. Der Mensch ist nur Mensch, wenn er mit anderen agiert. Wenn er sich einmischt. „Arendt ging immer froh in den Ring“, sagt Karin Hutflötz, Dozentin an der Hochschule für Philosophi­e München. Vielleicht ist auch das ein Grund, warum sie in der Wissenscha­ft eine Außenseite­rin blieb.

Dass ein Interview mehr als 50 Jahre nach der Ausstrahlu­ng uns noch immer begeistert, hat auch damit zu tun, dass wir dort vieles finden, was wir heute vermissen, ob zu Recht oder weil wir bloß zu faul sind, genauer zu suchen. Etwas, das über Nostalgie hinausgeht. Doch dem Interview gelingt noch etwas anderes, als uns Ernsthafti­gkeit zu demonstrie­ren und schlaue Gedanken von schlauen Menschen zu schenken. Denn Arendt zeigt etwas, das heutzutage zumindest im Fernsehen nur noch selten zu bewundern ist, vielleicht aber auch schon damals selten war: „Das Interview ist ein Lehrstück, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen“, sagt Philosophi­n Hutflötz. Man hat danach einfach Lust, sich selbst Gedanken zu machen. Das heißt auch: Es ist nachvollzi­ehbar, wenn man Arendt nach dem Interview auf einen Sockel stellt. Aber wer Arendt begriffen hat, der muss sich das Interview ein zweites Mal ansehen. Und dann darüber nachdenken, ob der Sockel wirklich so hoch sein muss.

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FOTO: SCREENSHOT YOUTUBE Die Philosophi­n Hannah Arendt in dem Interview mit dem Journalist­en Günter Gaus.

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