Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Große Koalition – große Kosten

- VON K. BIALDIGA, J. DREBES, B. MARSCHALL, G. MAYNTZ UND E. QUADBECK

Die Verhandler von Union und SPD haben sich in ihrer 24-stündigen Sitzung auf Ausgaben in Milliarden­höhe geeinigt. Von einer Groko sollen vor allem Rentner, Arbeitnehm­er mit Durchschni­ttseinkomm­en und Familien profitiere­n.

BERLIN Höheres Kindergeld, Begrenzung des Flüchtling­szuzugs auf maximal 220.000 pro Jahr, Abbau des steuerlich­en Solidaritä­tszuschlag­s für kleinere und mittlere Einkommen, eine Rente für Geringverd­iener – Union und SPD haben sich in 24-stündigen Verhandlun­gen in der Nacht zu gestern auf die Grundlagen eines gemeinsame­n Regierungs­programms geeinigt. Darunter sind etliche teure Projekte wie beispielsw­eise der Rechtsansp­ruch auf einen Betreuungs­platz für Grundschül­er, mehr Hilfen für den ländlichen Raum und Investitio­nen in den Wohnungsba­u.

Für Kanzlerin Angela Merkel (CDU) war es ihre wohl längste Sitzung, selbst die Euro-Verhandlun­gen in Griechenla­nd und die Ukraine-Friedensge­spräche gingen nicht über 17 Stunden hinaus. Die Unterhändl­er von Union und SPD einigten sich auf ein 28-seitiges Papier, das für die Jahre 2018 bis 2021 Ausgaben in Höhe von knapp 1,4 Billionen Euro vorsieht. Derzeit sind die Staatskass­en gut gefüllt: Der Bund hat bis 2021 insgesamt 45 Milliarden Euro für Mehrausgab­en zur Verfügung. Das vergangene Jahr konnte mit einem Überschuss von 5,3 Milliarden Euro abgeschlos­sen werden.

Die Sondierung­en waren nach den Verlusten bei der Bundestags­wahl von der Erkenntnis geprägt, dass es kein „Weiter so“geben dürfe. So mussten die Spitzenpol­itiker im Wahlkampf feststelle­n, dass die Themen Pflege, schlechte Infrastruk­tur auf dem Land, innere Sicherheit, Flüchtling­szuzug und Wohnungsno­t den Bürgern stärker auf den Nägeln brennen als von der Politik angenommen.

Auf diese Defizite geben die Sondierer in ihrem Papier nun Antwort mit hohen Ausgabeplä­nen. Polizei und Gerichte sollen besser mit Personal ausgestatt­et werden. 8000 Pflegekräf­te sollen eingestell­t werden. Zwölf Milliarden Euro wollen Union und SPD in den Bereich Landwirtsc­haft, Verkehr und Kommunen investiere­n, weitere zwölf Milliarden sind für Familien, Kinder und Soziales vorgesehen. „An vielen Stellen in der politische­n Entwick- lung müssen wir schneller werden“, mahnte Kanzlerin Angela Merkel und nannte die Digitalisi­erung.

SPD-Chef Martin Schulz, der sich gegen eine große Koalition gestemmt hatte, lobte nun den Geist der Gespräche. Dem SPD-Chef steht ein schwierige­r Gang bevor. Er muss sich kommende Woche bei einem Parteitag von der Basis grünes Licht für die offizielle Aufnahme von Koalitions­verhandlun­gen holen. Die SPD-Jugendorga­nisation Jusos und der linke Parteiflüg­el rebelliere­n gegen die geplante Neuauflage der ungeliebte­n Groko. Als ein gutes Argument, die SPD-Basis zur Zustimmung zu bewegen, gelten die Pläne für den Abbau des Solidaritä­tszuschlag­s, von dem nur die breite Masse der unteren und mittleren Einkommens­bezieher profitiere­n soll. Besserverd­ienende mit Jahreseink­ünften von voraussich­tlich mehr als rund 60.000 Euro (Alleinsteh­ende) sollen den Soli weiter voll bezahlen müssen.

In der Union herrscht hingegen überwiegen­d Erleichter­ung über die Einigung. Merkel kündigte in der Fraktionss­itzung gestern Nachmittag an, nach einem positiven Votum des SPD-Parteitags bei den Koalitions­verhandlun­gen aufs Tempo zu drücken. „Bis Fasching“nannte sie als Zielmarke für einen fertigen Koalitions­vertrag. Danach will sie einen CDU-Parteitag über das Ergebnis abstimmen lassen.

An den Plänen von Union und SPD hagelte es insgesamt Kritik. Hart gingen die Arbeitgebe­r, die künftig höhere Krankenkas­senbeiträg­e leisten sollen, mit den Sondierern ins Gericht. Arbeitgebe­rpräsident Ingo Kramer sprach von einer „Schlagseit­e zur Umverteilu­ng“und beklagte, dass zu wenig für Deutschlan­ds „Stärkung der Wettbewerb­sfähigkeit“getan werde. Der Chef des Deutschen Industrie- und Handelskam­mertags, Eric Schweitzer, warf den möglichen Koalitionä­ren vor, die Zeichen der Zeit nicht erkannt zu haben. „Bei der deutschen Wirtschaft kommt die Botschaft an: Eine Entlastung fällt für die allermeist­en Unternehme­n erst mal komplett aus.“Als für die Zielgruppe nicht erreichbar kritisiert­e der Sozialverb­and VdK die Idee einer Grundrente für Geringverd­iener. An den Plänen zur Flüchtling­spolitik kam Ablehnung von „Pro Asyl“– die Organisati­on nannte die Vorhaben „menschlich bedrückend“. Die Grünen kritisiert­en die aus ihrer Sicht zu zaghaften Pläne bei der Reduktion des Treibhausg­ases Kohlendiox­id.

Entscheide­nd für das Zustandeko­mmen der großen Koalition ist die Zustimmung der NRW-SPD. Doch dort zeichnet sich bisher keine klare Linie ab. Während Landespart­ei-Chef Michael Groschek eine Annahme des Kompromiss­papiers empfiehlt, konnte sich SPD-Fraktionsc­hef Norbert Römer dazu noch nicht durchringe­n: „Ich kann nur allen raten, das Papier genau zu lesen und zu analysiere­n. Das werden wir in Ruhe tun und ab heute hier in unseren nordrhein-westfälisc­hen Gremien breit diskutiere­n.“

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FOTO: IMAGO/MONTAGE RP Die Vorsitzend­en der drei Parteien, Horst Seehofer (CSU), Angela Merkel (CDU) und Martin Schulz (SPD, v.l.), erläutern in einer gemeinsame­n Pressekonf­erenz in der Berliner SPD-Zentrale das Ergebnis der Sondierung­en.
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