Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch
Märchenhafter Kellerwald
Schneewittchens Reich: Tagelang kann man auf dem rund 160 Kilometer langen Kellerwaldsteig wandern.
„Ist es nicht märchenhaft hier“, flüstert Naturführerin Rita Wilhelmi. Die saftiggrünen Blätter der hochgewachsenen Buchen und knorrigen Eichen glänzen im Sonnenlicht, als hätten die sieben Zwerge unter ihnen ihre Laternen angezündet. Nordhessen ist Grimm-Heimat. Von Hanau, der Geburtsstadt von Jacob und Wilhelm Grimm, bis Bremerhaven schlängelt sich die Deutsche Märchenstraße. Auf rund 600 Kilometern reiht sie die Lebensstationen der bei- den Brüder und die Orte und Landschaften aneinander, in denen die Geschichten beheimatet sind.
Dabei streift sie auch den Naturpark Kellerwald-Edersee südwestlich von Kassel. Tagelang kann man auf dem rund 160 Kilometer langen Keller- wald- oder dem weniger als halb so langen Urwaldsteig wandern. Über breite Wege und verträumte Pfade. Vorbei an bizarren Baumgestalten. Hügelauf und hügelab. Der Kellerwald ist einer der größten zusammenhängenden Buchenwälder Mitteleuropas: Eingebettet in den Naturpark ist der Nationalpark Kellerwald-Edersee, der zum Unesco-Weltnaturerbe zählt. Es ist ein unzerschnittenes Waldgebiet, ohne forstwirtschaftliche Nutzung. Viele Buchen und Eichen sind weit über 100, manche fast 300 Jahre alt.
Hin und wieder gibt der Wald den Blick frei auf den blaugrau schillernden Edersee. Tief unten im Wasser schlummern drei ehemalige Ortschaften. Vor 100 Jahren mussten die Einwohner von Asel, Berich und Bringhausen für den Bau der Edertalsperre ihre Dörfer verlassen. Mit Hilfe der Staumauer kann über Eder und Fulda Wasser an die Weser abgegeben werden, sodass diese ganzjährig befahrbar bleibt.
Manche Bewohner nahmen die Fachwerkbalken mit und bauten ihre Häuser mit frischem Lehm wieder auf. Die verbliebenen geräumten Ge- bäude wurden gesprengt. „Nach trockenen Sommern, wenn im Herbst viel Wasser in die Weser abgelassen wird, um die Schifffahrt aufrecht zu erhalten, biete ich ,Wattwanderungen’ an“, sagt Rita Wilhelmi und zeigt ein Foto, auf dem Ruinen und eine Brücke aus dem fast ausgetrockneten See herausragen.
Am Rande des Kellerwalds ist Schneewittchen zu Hause. Im Kupferbergwerksdorf Bergfreiheit, das sich Schneewitt- chendorf nennt, sollen die sieben Zwerge gelebt haben. Es könnten Kinder gewesen sein, die im Bergwerk arbeiten mussten. Das Schicksal von Margarete von Waldeck könnte die Grundlage für den Märchenstoff der Prinzessin Schneewittchen gebildet haben. Sie wuchs im Schloss Waldeck auf, das heute als Hotel hoch über dem Edersee thront. Mehrere Prinzen und Grafen bemühten sich um sie, denn sie war außergewöhnlich hübsch. Im Alter von 21 Jahren wurde sie vergiftet.
Die märchenhafte Landschaft hat auch Köche der Region inspiriert. Entlang des Flüsschens Urff gelangt man von Bergfreiheit nach Oberurff-Schiffelborn. Hier hat sich Jörg Vorpagel ein zuckersüßes Reich geschaffen. Mit über 100 Jahre alten Maschinen fertigt er in seiner Bonbonmanufaktur „Grimms Naschwerkstatt“Leckerlies mit Erdbeer-, Kirsch-, Zitrone-, Waldmeister-, Honig- oder Mocca-Sahne-Geschmack. Rund zwölf unterschiedliche Sorten habe er inzwischen kreiert, erzählt Jörg Vorpagel. Vorsichtig lässt er den lachsfarbenen Bonbonteig über die Walzen laufen. Fünf Motive stehen zur Auswahl: „Aschenputtel“, „der Froschkönig“, „der gestiefelte Kater“, „Rapunzel“und „die drei Wünsche“.
Nur Süßes herzustellen, das wäre Sybille Kern nicht genug gewesen. Die Hotelfachfrau ließ sich vor zehn Jahren zur „Märchenköchin“ausbilden. „Rund 50 Märchenköche sind inzwischen in Nordhessen gekürt“, berichtet sie: „Wir machen das Leben und Wirken der Brüder Grimm kulinarisch erlebbar, aber nicht als Kinderteller, sondern als fantasievolles Gaumenerlebnis.“Bekannte und auch unbekanntere Geschichten werden in mehreren Gängen anspruchsvoll interpretiert. Die Redaktion wurde von der Tourist-Info Bad Zwesten zu der Reise eingeladen.